Interview |20.09.2016|13:45

Jugendcoach Siewert: Mit Ginter fing alles an

Jan Siewert (links) hat mit 34 Jahren schon viele Erfahrungen im Umgang mit jungen Fußballern gesammelt. Matthias Ginter (rechtes Foto, links unten) sichtete er beim Länderpokal in Duisburg und begleitete und verfolgte seine Entwicklung bis zum Weltmeister. [Foto: VfL Bochum, privat / Collage: FUSSBALL.DE]

Mit gerade einmal 34 Jahren hat es Jan Siewert im Fußball schon weit gebracht. Angefangen hat seine Karriere als DFB-Stützpunktkoordinator, später übernahm er den Posten des Co-Trainers in verschiedenen deutschen U-Nationalmannschaften. Über die Station als Cheftrainer beim Viertligisten und Traditionsverein Rot-Weiss Essen zog es ihn nun zum VfL Bochum. Dort ist Siewert als Trainer der U19 und gleichzeitig als Co-Trainer von Gertjan Verbeek tätig – das ist Teil des Konzepts beim Zweitligisten aus dem Ruhrgebiet.

Im FUSSBALL.DE -Interview zur Themenwoche Nachwuchsfußball spricht Siewert über seine Philosophie als Jugendtrainer, seine Entdeckung von Weltmeister Matthias Ginter und den aktuellen Stand der deutschen Talentförderung.

FUSSBALL.DE: Herr Siewert, trotz Ihrer erst 34 Jahre können Sie bereits auf einen großen Erfahrungsschatz zurückgreifen – sowohl im Jugend- als auch Seniorenbereich. Wo liegt der größte Unterschied im Training und Umgang mit den Spielern beider Bereiche?

Jan Siewert: In der Jugend geht es um ein langfristiges Ziel, nämlich die Ausbildung. Man hat Zeit, langfristig mit Spielern zu arbeiten und klare Ziele zu verfolgen. Dahingegen geht es im Seniorenfußball um ein kurzfristiges Ziel: Das nächste Wochenende und das Ergebnis am Spieltag.

"Wir in Deutschland sind perfektionistisch veranlagt - und das ist auch gut so"

Was macht für Sie den Reiz der Arbeit innerhalb der Talentförderung aus?

Siewert: Es ist sehr schön zu sehen, wie die Spieler sich mit der Zeit entwickeln. Wenn man sieht wie sich ein Junge sowohl im mentalen, physischen und im technisch-taktischen Bereich verbessert, dann ist das reizvoll. Ich finde es schön, den jungen Spielern ihr Potenzial aufzuzeigen und dieses gemeinsam auszuschöpfen.

Wie sieht die Philosophie aus, mit der Sie Spieler versuchen voranzubringen?

Siewert: Meine Philosophie liegt darin, den Spielern ihre Stärken vorzuweisen. Daraus entwickelt sich gleichzeitig das Potenzial, an dem gearbeitet werden kann. Es bringt nichts, dem Spieler zu sagen, was er alles nicht kann. Vielmehr will ich ihm zeigen: Das kannst du schon richtig gut. Dann kann diese Fähigkeit spezialisiert werden. Gleichzeitig müssen aber natürlich auch die Teilbereiche gefördert werden, in denen der Spieler noch nicht so weit ist.

Es ist mit Sicherheit nicht einfach, die Jugendlichen immer richtig anzusprechen. Wie wichtig ist Ihrer Meinung nach neben der fußballerischen die soziale Komponente bei der Nachwuchsarbeit?

Siewert : Sehr wichtig! Die jungen Spieler müssen Vertrauen in sich und den Trainer haben, auf dem Platz müssen die Spieler Vertrauen untereinander haben und am Umgang miteinander arbeiten. Der Kernpunkt meiner Arbeit ist, den Jungs zu zeigen, dass ich in ihre Qualität vertraue. Ohne eine soziale Basis und das Vertrauen ist der Umgang mit den Spielern unmöglich.

Vor Ihrer Zeit als Trainer in Essen und Bochum waren sie lange Zeit beim DFB aktiv. Wie sah dort Ihre Arbeit aus?

Siewert : Insgesamt war ich sechs Jahre dort, davon drei Jahre lang als Co-Trainer verschiedener U-Nationalmannschaften. Angefangen habe ich als Leiter der DFB-Stützpunkte im Landesverband Rheinland, wo ich Trainer ausgebildet sowie Trainingspläne und Inhalte erarbeitet habe, die den Spielern zugeführt werden sollten, damit sie im Fußball langfristigen Erfolg haben können. Die Arbeit im Vergleich zum Verein ist anders, da sie im direkten Umgang mit den Spielern nicht tagtäglich stattfindet. Man ist zwar ständig im Austausch mit den Vereinstrainern, hat aber nur einmal pro Woche Kontakt zum Spieler. Die strategische und inhaltliche Planung ist beim Verband wichtig.

In welchen Bereichen profitieren Sie noch heute von den Erfahrungen beim DFB?

Siewert: Ich durfte dort die besten Talente trainieren und konnte sehen, dass Spieler mit vermeintlich besten Voraussetzungen den Sprung am Ende doch nicht geschafft haben. Mit der Zeit konnte ich mir dort einen Erfahrungsschatz zulegen, der mir heute dabei hilft einschätzen zu können, wie die Entwicklung eines Spielers verlaufen könnte. Außer dem reinen Talent fließen da noch unzählige andere Faktoren mit ein.

Im Rahmen Ihrer Arbeit beim Verband haben Sie auch Zeit mit Horst Hrubesch verbracht, der kürzlich als Olympia-Silbermedaillengewinner das Amt als Trainer der U 21-Nationalmannschaft niedergelegt hat. Was konnten Sie von Hrubesch lernen?

Siewert: Hrubesch hat die soziale Komponente der Talente über Jahre hinweg geprägt. Er hat einen fantastischen Umgang mit den Jungs, seine direkte Ansprache ist hervorragend. Bei ihm darf auch gesagt werden, was nicht passt - das wird dann akzeptiert, weil man ganz klar weiß, dass der Mann die Spieler nach vorne bringt. Er hat durch seine Art vielen deutschen Talenten den Weg geebnet.

Thema Nachwuchstraining: Es gibt inzwischen bei allen Profivereinen Leistungszentren, der DFB unterhält unzählige Stützpunkte. Wie bewerten Sie den Stand der Talentförderung hierzulande generell?

Siewert: Insgesamt ist der Stand sehr gut. Unter DFB-Sportdirektor Hansi Flick wurde eine noch engere Verzahnung von Vereinen und Verband vorgenommen. Der DFB ist ganz gezielt auf die Vereine zugegangen, dort wurde im engen gegenseitigen Austausch gearbeitet. Inzwischen sind alle Bereiche hervorragend miteinander vernetzt: Stützpunkttrainer und -koordinatoren, Verbandsauswahltrainer und die Verantwortlichen in den Nachwuchsleistungszentren. Hier wird sehr kompetent mit den Talenten gearbeitet.

Wo sehen Sie noch Verbesserungsbedarf? Oder ist der Zenit der Möglichkeiten im Nachwuchsbereich bald erreicht?

Siewert: Den Zenit erreichen wir nie, da wir in Deutschland meiner Meinung nach zu perfektionistisch veranlagt sind und wir immer nach Höherem streben. Das ist auch gut so. Allerdings ist es wichtig, die Wurzeln des Fußballs nicht aus den Augen zu verlieren. Der Fußball verändert sich, aber gewisse Grundwerte sollten bestehen bleiben. Ich denke, dass die Weiterentwicklung mit sich bringt, dass in den Teilbereichen immer mehr auf den Einsatz von Spezialisten und Experten gesetzt wird - sei es die Athletik, das Mentale, das Offensiv- oder Defensivspiel. Die Aufgabe des Cheftrainers wird es in Zukunft eher sein, alle Teilbereiche zu steuern und sinnvoll zu verknüpfen.

Welches Gefühl löst es aus, wenn Sie sehen, dass sich ein junger Spieler unter Ihrer Leitung stark verbessert und vielleicht sogar den Sprung zu den Profis schafft?

Siewert: Wenn man weiß, dass ein Spieler es geschafft hat, erfüllt einen das mit Stolz. Ein gutes Beispiel dafür ist Matthias Ginter, den ich beim Länderpokal des Jahrgangs 1994 in Duisburg gesichtet habe. Daraufhin habe ich ihn weiterempfohlen, später durfte ich ihn auch in der U 20- und U 21-Nationalmannschaft weiter begleiten. Dann zu sehen, dass der Junge einige Jahre später den Weltmeisterpokal in den Himmel reckt, das ist eine tolle Sache.

Wie wichtig ist es für Jugendspieler, früh ins Mannschaftstraining der Profis integriert zu werden?

Siewert: Meiner Meinung nach ist das ein wichtiger Prozess, um den aktuellen Stand der Spieler zu sehen und ihnen klar aufzuweisen, wie ihre Perspektive aussehen kann. Im Profi-Training merken sie schnell, dass das Tempo höher ist und sie sich verbessern müssen, um eine Chance zu haben. Das Ganze hat den Vorteil eines nahtlosen Übergangs von der U 19 in den Seniorenbereich.

Gerade der VfL Bochum hat in dieser Hinsicht ein recht individuelles Konzept ohne eine U 23, dafür mit vielen Jugendspielen im Profi-Trainingsbetrieb. Erklären Sie dieses Konzept bitte einmal genauer.

Siewert : Es ist so, dass wir aktuell acht Spieler aus der U 19 haben, die die Vorbereitung bei den Profis mit aufgenommen haben. Man konnte schnell erkennen, wer bereits das entsprechende Niveau hat, um kontinuierlich am Profi-Training teilzunehmen. Aufgrund der individuellen Betreuung mit mir vor Ort konnten wir bereits drei jungen Spielern die Möglichkeit bieten, im Kader der Ersten Mannschaft zu stehen. Görkem Saglam beispielsweise hat als aktueller Spieler unserer U 19 sogar schon drei Zweitligaspiele absolviert. Das zeigt, dass die Verzahnung und die intensive Rücksprache über die Spieler zwischen Jugend- und Cheftrainer sehr effizient sind. Wichtig ist, dass weiterhin die Spielpraxis in der U 19 gesammelt wird, denn die ist für die Wettbewerbsfähigkeit unerlässlich. Darüber hinaus versuchen wir so oft wie möglich sogenannte Angebotsspiele zu vereinbaren, in denen die jungen Spieler gemeinsam mit den Ergänzungsspielern der Ersten Mannschaft Spielpraxis sammeln können.

Das waren die Vorteile – gibt es auch Nachteile? Beispielsweise, dass die jungen Spieler zu früh zu viel wollen?

Siewert: Ich bin dafür da, die Jungs wieder auf den Boden zu holen, wenn sie mal drohen abzuheben. Es ist kein Nachteil, sondern eine Herausforderung: Man sieht sofort, wer kritikfähig ist, wer eine gewisse Frustrationstoleranz hat, wenn es mal nicht im ersten Anlauf klappt - das sind auch wichtige Merkmale für Talente.

Bei Ihrer vorherigen Station beim Regionalligisten Rot-Weiss Essen waren Sie als Cheftrainer aktiv. Zu Ihren Aufgaben gehörte aber explizit auch die Integration der Jugendspieler. Wie hat das funktioniert?

Siewert: Wir hatten bei RWE einen Gesamtauftrag. Das Ziel war - ähnlich wie beim VfL Bochum - die Verzahnung des Jugend- und Seniorenbereichs. Natürlich war der Rahmen beim Regionalligisten kleiner und das Niveau ein anderes. In enger Absprache mit den Trainern der U 19 und der U 17 habe ich herausgearbeitet, welches Training ich für die verschiedenen Jugendmannschaften als sinnvoll erachte. Außerdem habe ich dort das sogenannte Fördertraining eingeführt, in dem die besten Talente mit den Profis zusammen trainierten. Aus diesem Pool haben bisher vier Spieler den Sprung in die Regionalliga-Mannschaft gepackt, das freut mich natürlich.

Die aktuelle Transferpolitik vieler Vereine – bestes Beispiel ist derzeit wohl Borussia Mönchengladbach – neigt immer stärker dazu, sehr junge Spieler zu verpflichten und diese eigenständig weiterzuentwickeln. Wie bewerten Sie diese Veränderung?

Siewert: Ich glaube, dass im Fußball ein Gleichgewicht zwischen Erfahrung auf dem Platz und entwicklungsfähigen Spielern wichtig ist. Natürlich hat es einen Vorteil, wenn die Spieler früh zum Verein kommen und dessen Philosophie verinnerlichen. Aber nur durch solche Transfers funktioniert es nicht.

Sie haben inzwischen im Fußballgeschäft einige Stationen hinter sich und eine schnelle Entwicklung hingenommen. Welche Empfehlungen geben Sie jungen ambitionierten Nachwuchstrainern, die eine ähnliche Karriere anstreben?

Siewert: Offen sein für Neues, Zeit und Geduld haben und sich immer wieder in der Trainingsarbeit verbessern. Meistens entstehen Möglichkeiten, wenn man gezielt arbeitet und Vertrauen in seine Arbeit hat. Wichtig ist, dass man aus seinen Fehlern lernt: Wenn man nach einer Trainingseinheit merkt, dass man vieles hätte anders machen können, dann versucht man es beim nächsten Mal besser zu machen und entwickelt sich weiter. Bei mir hat es glücklicherweise so gut funktioniert.