Wenn die Abwehr in Einzelteile zerlegt wird
Eins von vielen hohen Ergebnissen in dieser Saison. RB Leipzig schlägt Nürnberg 6:0.[Foto: imago]
Fußball-Weisheit #13: „Wir dürfen jetzt nicht den Sand in den Kopf stecken.“ (Lothar Matthäus)
Da klimpert’s kräftig im Phrasenschwein. Selbst ein erfolgreicher Weltfußballer wie Lothar Matthäus weiß, dass man nicht immer auf der Sonnenseite des Lebens stehen kann. Niederlagen und Durststrecken gehören zum Sportlerdasein schlicht dazu. Oft sind es gerade diese Phasen, in denen der Athlet lernt, auch mit schwierigen Situationen umzugehen und an Reife zu gewinnen. Sich von einer Welle tragen lassen, das kann jeder. Sich nach Rückschlägen immer wieder zurückkämpfen, das unterscheidet häufig gute von sehr guten Spielern. Da sollte man nicht gleich den Sand in den Kopf stecken – oder so ähnlich.
Dass die meisten Begegnungen im Fußball einen Sieger und einen Verlierer mit sich bringen, liegt in der Natur der Sache. Im deutschen Profi-Fußball scheint es allerdings gerade den Trend zu geben, dass sich Teams immer häufiger in einen Rauschzustand spielen, in dem einfach alles gelingt. Das Ergebnis ist schließlich ein „Kantersieg“ oder eine „Klatsche“ – je nachdem, mit welcher Truppe man es hält. Beispiele gibt es genug: Nürnberg wurde mit 0:7 vom BVB und 0:6 von Leipzig abgewatscht. Düsseldorf bekam beim 1:7 in Frankfurt ordentlich auf die Mütze. Bremen fing sich eine 2:6-Heimpleite gegen Leverkusen ein, woraufhin die Bayer-Elf auch noch im DFB-Pokal gegen Mönchengladbach (5:0-Auswärtssieg) für Furore sorgte. Auffällig dabei: In keinem dieser Spiele waren die Bayern vertreten, die in den letzten Jahren so häufig als Veranstalter von solchen Machtdemonstrationen auftraten. Ganz im Gegenteil: Der FCB handelte sich eine beinahe majestätsbeleidigende 0:3-Heimpleite gegen Gladbach ein. Ein Ergebnis, das für andere Clubs einem 0:6 gleichkommt. Auf die fast schon traditionelle Klatsche, mit der die Bayern in brutaler Regelmäßigkeit den HSV nach Hause schickten, kann nach deren Abstieg auch keiner mehr setzen. Die Hamburger fühlten sich aber vielleicht schon daran zurückerinnert, als sie in der laufenden Saison im heimischen Volkspark mit 0:5 von Jahn Regensburg überrollt wurden. Wer so abgefertigt wird, muss sich erstmal sammeln. Aber ich zahle da gern nochmal ins Phrasenschwein ein: Lieber einmal 0:5 verlieren, als fünfmal 0:1. Kopf hoch, Mund abputzen, weiter geht’s.
Nullnummern als hochdosierter Baldrian-Ersatz
"Lieber einmal 0:5 verlieren, als fünfmal 0:1. Kopf hoch, Mund abputzen, weiter geht’s."
Solange man nicht zur Anhängerschaft des Unterlegenen gehört, bietet eine torreiche Partie großen Unterhaltungswert für den Zuschauer. Es gibt natürlich auch ansehnliche Spiele, in denen nur wenige oder gar keine Tore fallen. Eine große Defensivschlacht kann auch den neutralen Betrachter begeistern. Tore sind nicht zwingend die Zutat für eine attraktive Partie. Ein knappes Ergebnis garantiert auf der anderen Seite aber auch keinen spannenden Kick. Vorsichtiges Ballgeschiebe auf beiden Seiten, das auf die bloße Fehlervermeidung angelegt ist – und zack, sind die 90 Minuten schon rum. Wir kennen alle die lahmenden Partien, die als hochdosierter Baldrian-Ersatz herhalten könnten. Der gemeine Fan ist weder Bluthochdruck-Patient, noch leidet er unter Schlafstörungen. Da schaut er sich doch lieber ein rassiges 4:4 an – oder eben auch mal ein Team im Rauschzustand, das seinen Gegner nach allen Regeln der Kunst an die Wand spielt.
Bei der Einordnung in die Kategorie „Kantersieg“ ist allerdings Vorsicht geboten: Was in der Bundesliga als historisch hoher Erfolg in die Geschichtsbücher einiger Vereine eingeht, wird in vielen Kreisligen müde belächelt. 6:0? 7:0? Das ist für manche Mannschaften kaum der Rede wert. Beispiel: das Team-12 von Rot-Weiß Oberhausen. Die Truppe dominiert die Kreisliga C am Niederrhein nach Belieben. Nach 15 Partien beträgt ihr Torverhältnis stolze 127:14. Ein kurzer Griff zum Taschenrechner macht klar, dass die RWO-Truppe 8,47 Treffer pro Partie erzielt. Ein flüchtiger Blick durch die Ergebnisse (20:0, 16:1, 14:0, 14:1, …) verdeutlicht, dass die Oberhausener den ein oder anderen Knipser in ihren Reihen haben müssen, der durchaus auch höherklassig kicken könnte. Keine Herren-Mannschaft hat in der laufenden Saison bundesweit mehr Tore erzielt als die Kreisliga-C-Auswahl von RWO.
Torfestival im Drei-Minuten-Takt
Was die höchsten Einzelergebnisse angeht, sind die Oberhausener aber noch weit von der Spitze entfernt. Nur ein Beispiel: Am vergangenen Wochenende fertigte die DJK Wanne-Eickel 88 die Zweitvertretung vom SuS Pöppinghausen mit 27:0 ab. Nach dem Anpfiff schlug es fast im Drei-Minuten-Takt im Gehäuse der Gäste ein. DJK-Angreifer Mike Semert erzielte dabei satte elf Treffer – ein Wert, mit dem viele Stürmer am Ende einer kompletten Saison zufrieden wären. Es war sicher einer dieser Tage, an dem alles klappte. Ganz anders sah es da für die Gäste aus Pöppinghausen aus, die einen rabenschwarzen Tag erwischten. Hohn und Spott ist an dieser Stelle aber nicht angebracht: Die Mannschaft trat die Partie schon in Unterzahl an, was nicht selbstverständlich ist. Oft genug melden sich Mannschaften im Laufe der Saison ab oder treten bei einzelnen Partien gar nicht erst an. Wer sich dem Gegner aber im Sinne des Sports stellt, obwohl er nicht mal elf Leute zusammenbekommt, hat Respekt verdient. Dass die Gegenwehr mit zunehmender Spieldauer etwas nachlässt, wenn man bereits zweistellig zurückliegt, ist fast schon logisch und kann den tapferen Jungs auf dem Rasen kaum vorgeworfen werden.
Egal, wie hoch die Klatsche am Ende auch ausfallen mag: Nach dem Spiel gilt es, die 90 Minuten schnellstmöglich zu vergessen. Wie schon gesagt: Lieber einmal 0:27 verlieren, als siebenundzwanzigmal 0:1. Ein knapper Sieg in der nächsten Woche könnte die herbe Pleite sofort wieder vergessen machen. Da braucht nun wirklich keiner den Sand in den Kopf stecken.