Siegen-Coach Nehrbauer: "Entwicklung ging schneller als erwartet"
Thorsten Nehrbauer (2.v.l.) jubelt mit Co-Trainer Sergen Yesilcay: "Den schlafenden Riesen wecken".[Foto: imago]
Die Sportfreunde Siegen sind einer der traditionsreichsten Vereine in Deutschland. Nach vielen trüben Jahren geht es jetzt wieder aufwärts. Gerade hat die erste Mannschaft den Aufstieg in die Regionalliga West geschafft. Entscheidenden Anteil daran hat Trainer Thorsten Nehrbauer (47). Der Aufstieg gelang dank der sogenannten "Siegen-Zone" und 19 Prinzipien. Worum geht es dabei genau? Nehrbauer lüftet auf FUSSBALL.DE das Geheimnis.
FUSSBALL.DE: Thorsten Nehrbauer, herzlichen Glückwunsch zum Aufstieg mit den Sportfreunden Siegen. Wie schauen Sie auf die knapp zwei Jahre zurück, die Sie jetzt in der Verantwortung sind?
Thorsten Nehrbauer: Ich bin im Oktober 2023 zu den Sportfreunden gekommen. Der Verein hat bis heute eine riesige Tradition. Aber die Wahrheit ist: Als ich den Klub übernommen habe, stand er auf einem Abstiegsplatz in der Oberliga Westfalen. Dennoch war mir klar, dass wir hier vieles bewirken können, wenn wir die richtigen Maßnahmen ergreifen. Ich mag den Ausspruch eigentlich nicht, aber ich nutze ihn jetzt dennoch: Wir müssten den schlafenden Riesen wecken. Das war unsere Herausforderung.
Mit Erfolg.
Nehrbauer: Ja, das ist uns zum Glück ziemlich schnell gelungen. Es war vom ersten Tag an faszinierend zu erleben, wie groß die Leidenschaft für diesen Verein ist und wie die Fans im Siegerland die Sportfreunde lieben.
Wie tief hat der Verein geschlafen? Was mussten Sie machen, um ihn zu wecken?
Nehrbauer: Der Schlaf war ganz schön tief und fest. In den vergangenen Jahren haben die Sportfreunde sportlich schwierige Zeiten erlebt. Mehrfach konnte der Abstieg aus der Oberliga im letzten Augenblick verhindert werden. Die Zukunft des Vereins stand zeitweise auf des Messers Schneide. Aber die Sportfreunde konnten dieses Horrorszenario in letzter Minute noch abwenden. Zum Glück.
Was haben Sie gemacht, als Sie gekommen sind?
Nehrbauer: Ich habe unglaublich viel Zeit und Leidenschaft investiert, um das Ruder herumzureißen. Aber die Spieler haben super mitgezogen. Einige sind noch sehr jung, wir mussten sie direkt ins kalte Wasser werfen. Sie haben die Situation angenommen und sich freigeschwommen. Die Entwicklung ging schneller als erwartet. Deshalb war dann jetzt auch dieser große sportliche Erfolg möglich.
Ging es im ersten Jahr also um die Stabilisierung und in der nun zu Ende gehenden Spielzeit um den Aufstieg?
Nehrbauer: Wenn ich ganz ehrlich bin, ging es am Anfang darum, die Abstiegsränge zu verlassen. Das haben wir gut hinbekommen und uns schnell stabilisiert. In dieser Saison wollten wir oben mitspielen. Dass der Aufstieg so schnell klappen würde, damit hat niemand gerechnet. Umso schöner, dass wir es geschafft haben. Einen großen Anteil daran hat auch unser Geschäftsführer Matthias Georg.
"Mir ist es wichtig, dass die Spieler auf dem Rasen zu jeder Zeit und in jeder Situation wissen, was zu tun ist."
Bei Ihrem Amtsantritt haben Sie die Siegen-Zone und 19 Leitlinien ins Leben gerufen. Was hat es damit auf sich?
Nehrbauer: Ich habe unsere Spielphilosophie "Siegen-Zone" getauft, um das Thema greifbarer zu machen. Und die 19 Leitlinien sind mit der Zeit entstanden. Ich habe als Spieler viele große Trainer erlebt Christoph Daum, Ralf Rangnick, Jürgen Klopp, Dixie Dörner und Hannes Löhr, um nur einige zu nennen. Ich hatte das Glück, mit diesen Menschen arbeiten zu dürfen. Mit denen habe ich viel über den Fußball philosophiert. Und die haben dann zu mir gesagt: "Junge, du musst auch Trainer werden". Aber ich habe mir etwas Zeit gelassen. Ich habe mich selbstständig gemacht und mit meiner Frau ein zweites Standbein aufgebaut. Danach bin ich ins Trainergeschäft eingestiegen. Diese 19 Leitlinien habe ich mir nach und nach notiert. Das ist nichts Weltbewegendes. Der Fußball ist einerseits einfach, andererseits aber sehr komplex. Mit den Leitlinien, die man auch als Werte bezeichnen kann, versuche ich etwas Struktur in die Sache zu bekommen.
Können Sie das konkretisieren?
Nehrbauer: Mir ist es wichtig, dass die Spieler auf dem Rasen zu jeder Zeit und in jeder Situation wissen, was zu tun ist. Wenn es läuft, ist es einfach. Entscheidend ist, wenn es kompliziert wird. Dann muss man Antworten haben. Und diese am besten nicht erst suchen müssen, sondern sie bereits im Repertoire haben. Um auf Ihre Frage zu kommen: Meist gibt es im Fußball vier verschiedene Phasen, mit denen man sich auseinandersetzen muss. Erstens: Verhalten bei Ballbesitz, wenn der Gegner geordnet ist. Zweitens: Verhalten bei Ballbesitz, wenn der Gegner noch ungeordnet ist. Drittens: Verhalten bei gegnerischem Ballbesitz, wenn wir geordnet sind. Und viertens: Verhalten bei gegnerischem Ballbesitz, wenn wir noch ungeordnet sind. Diese vier Szenarien wiederholen sich innerhalb der 90 Minuten ständig. Und meine Aufgabe ist es, den Jungs Leitlinien mitzugeben, an denen sie sich orientieren können.
Sie haben eben Namen genannt, unter denen Sie selbst trainiert haben. Lassen Sie uns das noch etwas vertiefen. Wie haben Sie Jürgen Klopp als Trainer erlebt?
Nehrbauer: Wir haben zunächst in Mainz noch zusammengespielt. Er war auch als Fußballer total leidenschaftlich, aber in sportlicher Hinsicht eher limitiert… Es war besser, wenn er den Ball nicht am Fuß hatte. (lacht) Dann wurde Eckhard Krautzun als Trainer entlassen und Kloppo hat übernommen. Unter seiner Regie haben wir den Abstieg aus der 2. Bundesliga verhindern können. Das war der Beginn seiner persönlichen Erfolgsstory, die bis heute anhält. Er ist sehr clever, authentisch und leidenschaftlich. Das sind seine großen Stärken. Die Spieler folgen ihm bedingungslos. So, wie man ihn aus dem Fernsehen kennt, ist er auch im normalen Leben.
Sie sind dann zu Hannover 96 gegangen, wo recht schnell Ralf Rangnick Trainer wurde.
Nehrbauer: Ich habe in Hannover die bessere Möglichkeit gesehen, Bundesliga zu spielen. Unter Rangnick haben wir dann auch den Aufstieg geschafft. Rangnick war sehr nachhaltig und intensiv in seiner Trainingsarbeit. Taktische Dinge waren ihm unglaublich wichtig. Das ist auch heute mein Steckenpferd. Ohne eine funktionierende Struktur kannst du noch so gute Spieler haben, du wirst keinen Erfolg haben. Wenn alle wie in einem Hühnerhaufen durcheinander laufen, wird es nicht klappen.
Vorher haben Sie Christoph Daum in Leverkusen kennengelernt.
Nehrbauer: Bei ihm bin ich im wahrsten Sinne des Wortes durchs Feuer und über Scherben gelaufen. Christoph Daum war sehr intensiv und leidenschaftlich. Viele seiner Ideen habe ich in meine Trainerarbeit übernommen. Trotzdem muss man bei sich bleiben und darf nicht nur eine Kopie irgendwelcher erfolgreichen Trainer sein.
Ist es auch Ihr Ziel, irgendwann im Profibereich zu arbeiten?
Nehrbauer: Auf jeden Fall. Das ist mein Ziel.
Mit den Sportfreunden Siegen?
Nehrbauer: Das wäre eine schöne Geschichte. Ich hätte nichts dagegen, wenn jemand dieses Regiebuch schreiben würde. Aber ob das möglich ist, wird man sehen. Wir sind jetzt in der Regionalliga. Das ist eine super Sache. Der Weg weiter nach oben ist jedoch sehr kompliziert. Wir müssen uns auch dort nun zunächst etablieren und dann weitermachen. Klar ist für mich allerdings, dass ein Verein wie die Sportfreunde Siegen in den Profifußball gehört. Das Ziel haben aber sehr viele andere Traditionsklubs auch.
Lassen Sie uns zum Schluss unseres Gesprächs auf den Anfang zurückkommen: Ist der schlafende Riese Sportfreunde Siegen inzwischen also richtig wach oder noch nicht?
Nehrbauer: Ich will es gerne so formulieren. Der schlafende Riese ist richtig wach, ja. Aber er liegt noch im Bett. Wir müssen es jetzt schaffen, dass er das Bett und am besten auch das Schlafzimmer verlässt.