Amateur-Kolumne |09.06.2019|12:00

Abwehr-Kanten: Auf den Spuren van Dijks

Leistungsträger bei Liverpool und den Niederlanden: Virgil van Dijk.[Foto: 2019 Getty Images]

Der Aufschrei war groß, als der FC Liverpool im Januar 2018 84,5 Millionen für Virgil van Dijk gezahlt hat - für einen Innenverteidiger. Doch nicht nur der Gewinn der Champions League und das Erreichen des Nations-League-Endspiels mit den Niederlanden zeigt, dass die "Reds" aufs richtige Pferd gesetzt haben. Ein Plädoyer für die Auszeichnung des Ballon d'Or - und was das alles mit der Kreisliga zu tun hat: Joel Grandke mit seiner neuesten Ausgabe der Kolumne Amateur-Alltag .

Fußball-Weisheit #81: „Er verdient es, den Ballon d'Or zu gewinnen. Normalerweise wird der Preis an Spieler vergeben, die entscheidende Tore erzielen oder vorbereiten, aber wenn es jemals einen richtigen Zeitpunkt gab, ihn an einen Verteidiger zu geben, dann jetzt.“ (Bondscoach Ronald Koeman über Virgil van Dijk)

Da klimpert’s kräftig im Phrasenschwein. Der Zweifel muss erlaubt sein, dass Koeman als niederländischer Nationaltrainer nicht ganz unbefangen sein mag, wenn er über seinen Kapitän van Dijk spricht. Völlig aus der Luft gegriffen ist seine Forderung allerdings nicht. Als Liverpool van Dijk im Januar 2018 durch eine Ablöse von 84,5 Millionen Euro zum teuersten Verteidiger aller Zeiten gemacht hat, stellten sich viele Experten die Frage: „So viel Geld? Für einen Verteidiger?!“ Wie wahnsinnig solchen Summen für einen Fußballspieler generell sind, soll an dieser Stelle nicht das Thema sein. In Liverpool zieht man nach anderthalb Jahren jedenfalls ein klares Fazit: Der 27-Jährige ist jeden Cent wert. Mit der niederländischen Urgewalt, die durch Kopfballstärke auch noch für Torgefahr sorgt, spielten die „Reds“ ein sensationelles Jahr: Trotz einer Rekordsaison reichte es in der Premier League zwar „nur“ zur Vizemeisterschaft, dafür krönte die Klopp-Truppe sich in der Champions League. Van Dijk spielte dabei als Abwehrchef eine entscheidende Rolle, was seine Auszeichnung zum „Player of the Season“ der Premier League verdeutlicht – als Verteidiger wohlgemerkt. In Zahlen ist der Wert eines Spielers schwer auszudrücken, das gilt gleichermaßen für Ablösesummen wie für nackte Statistiken. Dennoch eine Hausnummer: In der laufenden Saison ist es wettbewerbsübergreifend nicht einem Gegenspieler gelungen, per Dribbling an dem 1,93-Meter-Hünen vorbeizukommen. In der Liga und allen Pokalwettbewerben wurde es 52 Mal versucht – ohne jeden Erfolg. Mit seinen Landsleuten aus der Nationalmannschaft steht van Dijk darüber hinaus im Finale der Nations League und kratzt damit bereits am nächsten Titel. Viel mehr geht nicht.

Spielaufbau? Wir sind hier nicht bei „Toys ,R’ Us“!

Die Bedeutung des Innenverteidigers im Allgemeinen hat sich im Laufe der Jahrzehnte ohnehin stark verändert. Wer auf dieser Position zur gehobenen Klasse gehören will, muss das eigene Spiel auch mit einem gepflegten Ball und gutem Auge öffnen kann. Dabei drängt sich aus Kreisliga-Sicht natürlich die berechtigte Frage auf: Wenn die Abwehrspieler nun auch noch gut kicken können müssen, auf welcher Position setzen wir dann die talentfreien Kollegen ein, die Ball mit dem Ball so viel anfangen können wie ein Oktoberfestbesucher mit einem alkoholfreien Bier? Doch ich kann an dieser Stelle beruhigen: Im Amateurbereich finden die zur Talentfreiheit Neigenden weiterhin ihre Nische in der hintersten Reihe der Mannschaft. Nichtsdestotrotz nehmen sie auf dem Feld einen mindestens genauso wichtigen Faktor ein wie ihre Teamkollegen.

In der Kreisliga sind die Innenverteidiger allerdings meist weniger im Spielaufbau gefordert als im Profigeschäft. Der klassische IV ist hier ein Mann der klaren Aktionen. Er hat die ewig goldene Regel „Hoch und weit bringt Sicherheit“ so sehr verinnerlicht, dass sie ihm diese noch auf den Grabstein meißeln werden. Sobald er den Ball am Fuß hat, bricht er in Schweiß aus. Es besteht eine Hassliebe zwischen ihm und dem Leder – also: Langholz raus damit! Es ist genau dieser Spielstil, der in der Kreisklasse für stehende Ovationen sorgt. Wehe dem, der in der als letzter Mann anfängt zu fummeln. Auch Querpässe zwischen den Abwehrspielern bringen nichts als nutzlosen Ballbesitz. Am eigenen Strafraum können schließlich keine Tore erzielt werden. Die Pille muss also nach vorne – und da wählt der Innenverteidiger Kreisliga-Innenverteidiger Mal den schnellsten Weg. Die meisten seiner Bälle landen zwar auf der benachbarten Kuhweide, dennoch gibt es stets ehrlichen Applaus vom Trainerteam und den Zuschauern: „Endlich mal einer, der klare Dinger herausspielt!“

„Wir unterhalten uns nur in Farben“

Im Zweikampf treten auch die Amateur-Abwehrrecken meist kompromisslos auf – eine Eigenschaft, die sie mit Vorbild van Dijk teilen. Technisch starke Angreifer können durchaus mal einen oder zwei Gegner per Übersteiger ins Leere laufen lassen, aber spätestens beim dritten Gegner ist Sense. Im wahrsten Sinne des Wortes. Der Innenverteidiger ist meist dieser dritte Gegner. Van Dijk hat sich in 38 Premier-League-Spielen lediglich eine einzige Gelbe Karte eingehandelt, was sein ohnehin starkes Zweikampfverhalten nochmals bemerkenswerter erscheinen lässt. In der Kreisliga ist es mit dem Timing bei den Grätschen hingegen so eine Sache: Hier wird die eigene Schnelligkeit gern mal über- oder das Tempo des Gegners unterschätzt, sodass es bei Grätschen regelmäßig spektakulär knallt. Mit einer entsprechenden Spielweise hat man sich beim Schiedsrichter natürlich schnell einen Namen gemacht, was diesen vor dem Anpfiff durchaus mal zu persönlichen Begrüßungen bewegen kann: „Sie kenne ich noch aus der Hinrunde – wir unterhalten uns nur in Farben!“

Die Verteidiger, die eher nicht so grob zulangen, beeindrucken meist durch ihre Geduld. Sie sind der lebende Beweis für die Kreisligaweisheit: „Wer keinen Trick kann, fällt auch auf keinen herein!“ Während sich Möchtegern-Ronaldos mit Körpertäuschungen und Tricks in Szene setzen wollen, wartet der Abwehrmann einfach so lange ab, bis diese über ihre eigenen Beine stolpern. So lassen sich Zweikämpfe gewinnen, ohne sie aktiv eingegangen zu sein. Effizienter und kraftsparender geht es kaum – da winkt direkt eom Jobangebot in der Entwicklungsabteilung eines Automobilherstellers.

Die eingangs genannte Statistik van Dijks, der seit über einer Saison nicht mehr ausgedribbelt wurde, könnten einige Kreisliga-IVs also noch toppen – auf verschiedenen Wegen. Entweder durch die Unfähigkeit der Angreifer, die sich selbst einen Knoten in die eigenen Beine dribbeln, oder eben durch ein – nennen wir es mal wohlwollend – „cleveres“ Foul. Wir füttern das Phrasenschwein an dieser Stelle ein letztes Mal, wenn wir den Klassiker des unorthodoxen Defensivverhaltens zitieren: „Ball oder Gegner dürfen vorbei – aber niemals beide gleichzeitig.“ Van Dijks löst diese Problematik definitiv abgezockter – robust, aber mit fairen Mitteln –, aber es muss ja auch einen Grund geben, warum er seine Heimspiele an der „Anfield Road“ austrägt und nicht auf dem Sportplatz in Königs Wusterhausen. Der Kreisliga-Beton wird nun mal mit anderer Rezeptur angerührt. Der muss nicht jedem schmecken, aber er hält im Zweifel auch ganz ordentlich.


Joel Grandke, Buchautor und aktiver Amateurkicker aus Hamburg, spürt in seiner wöchentlich auf FUSSBALL.DE erscheinenden Kolumne der Faszination Amateurfußball nach. Stets mit einem Augenzwinkern.