Talentförderung in Zeiten der Corona-Pandemie
Stehen im Zuge der Corona-Pandemie vor großen Herausforderungen: Carsten Busch (l.) und Lea Nottloff.[Foto: Rüdiger Zinsel]
Im zurückliegenden Jahr hatte die Corona-Pandemie die Spiel- und Trainingspläne im Griff, in allen Alters- und Leistungsklassen ruhte der Ball eine gefühlte Ewigkeit, und im ambitioniertesten Nachwuchsbereich wurde so manche hoffnungsvolle Karriere vorerst ausgebremst. Vor riesigen Herausforderungen standen und stehen auch die Verantwortlichen für die Talentförderung beim Fußball- und Leichtathletikverband Westfalen (FLVW).
Lea Notthoff bringt es auf den Punkt: "Das letzte Jahr war ein ganz besonderes Jahr. Jeder stand in allen Lebensbereichen vor großen Herausforderungen. Auch bei uns im Verband standen auf einmal Themen wie 'Hygienekonzepte' und 'Kontakt mit dem Gesundheitsamt' im Vordergrund und nicht der Sport an sich", erinnert sich die Leiterin des westfälischen Mädchenfußball-Internats, aus dem unter anderem die aktuellen Nationalspielerinnen Lina Magull, Sophia Kleinherne und Sjoeke Nüsken hervorgegangen sind. "Es hieß, kreativ zu werden: Wie kann man den Kontakt zu den Spielerinnen aufrecht erhalten? Welche Trainingsangebote sind online umsetzbar? Wie kann man eine Belastung aus der Ferne steuern?"
Dabei waren Notthoff und ihr Team in ihren beiden wesentlichen Verantwortungsbereichen gefordert: Zum einen galt es, auch in Pandemie-Zeiten die Geschicke der weiblichen Westfalen-Auswahlmannschaften zu lenken. Zum anderen sollten den Talenten aus dem FLVW-Mädchenfußballinternat auch jetzt bestmögliche Bedingungen geboten werden. "Bei der Westfalenauswahl haben wir ein buntes Rahmenprogramm auf die Beine gestellt", beschreibt die 31-Jährige. "Wir haben einen privaten Instagramkanal erstellt, unter anderem mit Technikvideos und Challenges, Onlinesprechstunden angeboten und einen virtuellen Trainingsplan erstellt und mit Leben gefüllt. Hier wurden unterschiedliche Themen angeboten: Yogastunden, Mentaltraining, gemeinsames Kochen, Stabilisations- aber natürlich auch Techniktraining. Die Nachfrage war sehr groß und wir haben viel positives Feedback erhalten, auch wenn die eine oder andere Vase im heimischen Wohnzimmer zu Bruch ging. Mit den Internatsspielerinnen waren wir im alltäglichen Austausch und haben – ergänzend zum Programm der Westfalenauswahl – vor allem mit individuellen Plänen gearbeitet."
Länderpokal-Turniere fehlen
"Weniger Talente im Top-Bereich könnten bedeuten, dass die Vereine unter großem Zeitdruck stehen, Talente sehr frühzeitig zu verpflichten"
Um den ambitioniertesten männlichen Nachwuchs kümmert sich Carsten Busch. Was hier die Talentförderung auf Verbandsebene – etwa die Westfalenauswahlteams – betrifft, herrscht coronabedingte Funkstille. "Die Struktur im männlichen Nachwuchsbereich sieht bekanntlich die Arbeit in den Nachwuchsleistungszentren (NLZ) der großen Vereine vor. Je nach Vorgaben der Gesundheitsämter konnte dort auch - innerhalb der geschlossenen Gruppe - trainiert werden", erklärt der FLVW-Verbandssportlehrer und betont: "Das ist bei uns auf Verbandsebene nicht möglich, da wir unsere Auswahlmannschaften aus mehreren Vereinen zusammenziehen. Und da sollte das Risiko, dass es bei Lehrgängen zu Ansteckungen kommt, nicht eingegangen werden."
Sowohl in der männlichen als auch in der weiblichen Top-Talentsichtung und -förderung schmerzen die coronabedingten Absagen der DFB-Länderpokal- und -Sichtungsturniere ganz besonders. Hier feiern die besten Auswahlteams nicht nur mannschaftliche Erfolge – auch für viele individuelle Karrieren entpuppten sich die Wettbewerbe in der Duisburger Sportschule Wedau als Sprungbrett. "Diese Vergleiche auf höchstem fußballerischen Niveau sind sonst immer ein Highlight in der Saison. Dort hat man die Möglichkeit, mit den Spielerinnen und Spielern Inhalte zu entwickeln und zielgerichtet zu arbeiten", unterstreicht Busch.
Enger Austausch mit DFB-Trainer*innen
Für den männlichen Nachwuchsbereich fasst der FLVW-Fußballlehrer die praktizierte Alternative zusammen: "Die DFB-Trainer haben hauptsächlich mit den Trainern der NLZ kommuniziert, um eine Übersicht über den Leistungsstand der interessanten Spieler zu haben. Gelegentlich ergänzte der Austausch zwischen Verbands- und DFB-Trainern diesen Informationsfluss."
Ähnlich schildert Notthoff die ungewohnte Arbeit im Bereich der weiblichen Talentsichtung und -förderung: "Eine Sichtung in der Form, wie wir sie kennen, gab es nicht. In den Landesverbänden wurden eigene Lösungen für die Talente gefunden. In Westfalen war eine sportliche Durchführung einer Sichtung leider nicht möglich. Wir sind aber immer in engem Austausch mit den Bundestrainerinnen und informieren sie über unsere Talente. So bekommt jetzt mit den startenden Lehrgängen des DFB die eine oder andere westfälische Spielerin die Chance, sich bei einem DFB-Sichtungslehrgang zu präsentieren."
Doch wie wird sich die Pandemiezeit auf die Leistungskurven und jungen Karrieren der vielversprechenden Talente auswirken? Die Erwartungen des Verbandssportlehrers gehen in unterschiedliche Richtungen: "Gerade den jungen Spielern, die nicht in einem NLZ gefördert werden und keinen Trainingsbetrieb haben, fehlt das Spiel auf hohem Niveau. Wer weiß außerdem, wie viele Kinder an der Basis fehlen werden, wenn die Pandemie vorüber ist? Das könnte langfristig negative Auswirkungen auf die Anzahl der Talente geben und weniger Talente im Top-Bereich könnten bedeuten, dass die Vereine unter großem Zeitdruck stehen, Talente sehr frühzeitig zu verpflichten", befürchtet Busch. "Auf der anderen Seite haben die Spieler in den Heimtrainingsarbeiten wahrscheinlich so viele Ballkontakte gehabt, wie sonst nur selten. Vielleicht profitiert das technische Niveau sogar in gewissem Maße davon, wenn diese Fertigkeiten immer wieder und regelmäßig unter Wettkampfbedingungen angewendet werden."
Folgen der Pandemie noch nicht absehbar
Auch in die nähere Zukunft blickt der 49-Jährige: "Das Wichtigste wird ein wieder geregelter Trainings- und Spielbetrieb sein. Erst nachdem das System wieder angelaufen ist, kann man feststellen, welche Auswirkungen die Pandemie haben wird", sagt der Verbandssportlehrer. "Hoffentlich gehen die Zahlen fußballspielender Mädchen und Jungs nicht zu stark zurück. Und bei der Beurteilung der Talente sollten wir auch immer im Hinterkopf haben, dass es eine lange Zeit keine Wettkämpfe gab – daher sollte hier nicht zu früh selektiert werden."
Und trotz aller negativen Entwicklungen während der Pandemie blickt auch Notthoff vorsichtig optimistisch in die Zukunft: "Man darf auch einige positive Aspekte nicht aus den Augen verlieren", findet die Sportpsychologin. "Viele Spielerinnen hatten schwere Trainingsvoraussetzungen, die meisten haben jedoch individuelle Lösungen gefunden, um an sich und ihren sportbezogenen Fähigkeiten zu arbeiten. Daraus können sie nun persönliche Stärke ziehen und diese 'neu entdeckte Widerstandsfähigkeit' wird ihnen auch im Sport nützen."