Panini-Sticker: Von Jägern und Sammlern
Äußerst beliebt, auch im Amateurfußball: Die Panini-Sticker.[Foto: AFP/GettyImages]
WM-Zeit bedeutet Panini-Zeit. Vor jedem großen Turnier steigt nicht nur in Deutschland der Puls von vielen eingefleischten Sammlern in gefährliche Regionen. Joel Grandke beschreibt in der neuesten Folge der FUSSBALL.DE-Kolumne Amateur-Alltag das Phänomen des Stickersammelns.
Fußball-Weisheit #74: „ Das da vorn, was aussieht wie eine Klobürste, ist Valderrama.“ Da klimpert‘s kräftig im Phrasenschwein. Kommentatoren-Legende Béla Réthy bediente sich schon immer gern der bildhaften Sprache. Bei den früheren Spielen der Kolumbianer staunten viele TV-Zuschauer sicher nicht schlecht, als sie den Mann mit dem zitronengelben Afro zum ersten Mal sahen: Carlos Valderrama. Eine Frisur wie eine Pusteblume – und gleichzeitig der vielleicht beste Kicker, den seine Nation jemals hervorgebracht hat. Für den Zuschauer war es unabhängig von seiner Haarpracht eine Augenweide, ihm beim Spielen zuzusehen. Doch sein markantes Äußeres machte ihn auch neben dem Platz zu einem der begehrtesten Spieler seiner Zeit – vor allem bei den leidenschaftlichen Panini-Sammlern. Die Porträt-Aufnahmen Valderramas sind bis heute legendär.
Auch unter den Amateurkickern gibt es noch die Junggebliebenen, die sich der Jagd auf die WM-Sticker verschrieben haben. Im WhatsApp-Chat der Mannschaft bringt sich im Frühjahr bereits ein Kollege in Stellung: „Leute! Falls ihr Panini-Bildchen in die Hände bekommt und nicht selbst sammelt: Ich freue mich über jede Unterstützung! Aber kein Wort zu meiner Frau!“ Der Verfasser hatte sich zuhause bereits eine Standpauke seiner Gattin anhören müssen, die meinte, dass das Sammeln und Tauschen bunter Aufkleber auf den Grundschulhof ihres Sohnes gehöre und nicht in den Hobby-Keller eines erwachsenen Mannes. Da könne er sich auch gleich Schlümpfe oder andere nutzlose Figuren aus den Ü-Eiern in die Vitrine stellen. Ihr Fazit: Eine kleinkindliche Geldverschwendung für ein Heft, das nach wenigen Wochen als ewiger Staubfänger auf dem Dachboden landet. Nicht mal für den Valderrama-Sticker konnte sie sich begeistern. Im Gegenteil: Sie fragte beim Anblick der Legende doch allen Ernstes, ob ihm ein Frettchen auf dem Kopf explodiert sei. Ein klarer Fall von grober Majestätsbeleidigung, der vor das internationale Sportgericht gehört.
Unser Kollege lässt sich von diesem fehlenden Support aber nicht von seiner Leidenschaft abbringen. Man müsse ja nicht alles tausendmal rational überdenken. Natürlich könnte man von dem Geld, das für die Jagd nach den insgesamt 682 verschiedenen Stickern nötig ist, mit Frau und Kind ein schönes Wochenende verbringen. Ein Mathematik-Professor der Cardiff University hat errechnet, dass ein Panini-Sammler im Schnitt 4832 Sticker kaufen müsste, um sein Heft vollständig zu füllen. Das entspräche 967 Tüten. Die Anzahl sinkt natürlich, wenn mit Bekannten getauscht oder exakte Sticker bestellt werden.
"Der Sammlertrieb gewinnt erneut. Die Jagd ist eröffnet."
Gratis-Tütchen wird zum Verhängnis
Aber genau diese Rechenspielereien spart sich der leidenschaftliche Sammler. Er hat sich ohnehin schon mehrmals vorgenommen, sich dieses Hobby abzugewöhnen. Genauer gesagt schwört er sich bereits seit der WM 1998 jedes Mal wieder, dass „dieses Album auf jeden Fall das letzte ist.“ Der Jäger-und-Sammler-Trieb ist allerdings tief in der DNA der Menschen verankert. Und wie es bei Süchten so ist: Es reichen schon kleinste Verlockungen und ein kurzer Moment, in dem sich alle guten Vorsätze in Luft auflösen. Es ist dieses eine Gratis-Pack, das einem ohne Ankündigung aus der Sportzeitung in den Schoß fällt. Man blickt dieses Päckchen an und weiß, dass man es besser nicht anrühren sollte. Man denkt über die monatelangen Sitzungen der Panini-Sucht-Selbsthilfegruppe nach. Wie sollte in so einer kritischen Situation nochmal vorgegangen werden? Richtig, man verschenkt das Päckchen an den Neffen oder den Nachbarsjungen – je nachdem, wem man zuerst über den Weg läuft. Man macht einfach einem Kind eine Freude damit. Sticker-Sammeln ist ja ohnehin Kinderkram.
Natürlich kommt alles anders. Wie immer. Bereits nach zehn Sekunden hat der eigentlich „trockene“ Panini-Sammler das Tütchen aufgerissen und freut sich über Thomas Müller, das Stadion von St. Petersburg, das Verbands-Logo von Panama, das Team-Foto von Südkorea und den Ersatzstürmer aus dem Iran, den keiner aussprechen kann. Die ersten fünf Sticker und kein Doppelter dabei. Dazu kommt mit Müller schon der erste DFB-Kicker. Mehr geht nicht. Das muss der Beginn von etwas ganz Großem sein. Sofort setzt sich unser Kollege ins Auto, da er angeblich ja eh tanken musste. An der Tanke angekommen, lacht ihn zufällig das Panini-Sammelheft im Zeitschriftenregal an. Auf die Sticker-Tüten im Kassenbereich hat der Betreiber gemeinerweise ein Spotlight gesetzt. Welche unmenschliche Willensleistung wäre nötig, um sich hier nicht die Hände voll zu machen? Der Sammlertrieb gewinnt erneut. Die Jagd ist eröffnet.
Knallhartes Feilschen am Gartenzaun
Zuhause angekommen, schleust er seine Einkäufe geschickt an der Frau vorbei in den Hobbykeller. Nun ist ein guter Plan gefragt, um nicht aufzufliegen: Er verbietet ihr für die nächste Zeit den Zutritt zu diesem Raum, indem er behauptet, dass er dort an einem Geschenk für ihren Geburtstag, der immerhin schon in neun Monaten ansteht, basteln würde. Eine totsichere Taktik, so glaubt er. Seine Frau riecht natürlich sofort Lunte, schließlich erlebt sie seine verzweifelte Geheimniskrämerei alle zwei Jahre zu jedem Großturnier. Das Gute daran: Das Auto ist rund um die WM- und EM-Turniere immer bis zum Anschlag vollgetankt. Dass seine heimliche Sammelei aber noch vor der Vervollständigung des Albums herauskommt, ist eigentlich klar. Die Frage ist nur, wann der Gatte den entscheidenden Fehler macht. In diesem Jahr stellt er sich besonders dilettantisch an. Aus dem Küchenfenster beobachtet seine Frau eines Abends, wie er mit dem Nachbarsjungen am Gartenzaun knallhart um Bildchen feilscht. Es stellt sich schließlich heraus, dass sich der Junge sein Taschengeld aufbessert, indem er als Mittelsmann die Panini-Sticker seines Nachbarn auf dem Schulhof tauscht. Und es ist längst nicht das erste Mal, dass die Beiden gemeinsame Sache machen: Vor Jahren haben sie bereits Duplos und Hanutas um die Wette gefressen, um zusammen ein entsprechendes Sammelheft zu füllen.
Bei solchen Geschichten können einem als Außenstehenden wirklich nur noch die Haare zu Berge stehen. So wie diesem einen Spieler von Kolumbien damals. Apropos Kolumbien: Falls jemand den Sticker von James Rodríguez doppelt haben sollte – bitte in den Kommentaren melden! Ich frage für einen Freund…
Joel Grandke, Buchautor und aktiver Amateurkicker aus Hamburg, spürt in seiner wöchentlich auf FUSSBALL.DE erscheinenden Kolumne der Faszination Amateurfußball nach. Stets mit einem Augenzwinkern.