Goldenes Händchen: Topjoker statt Bankdrücker
Glücklich miteinander: Top-Joker Alcacer (r.) und Wechselkönig Lucien Favre.[Foto: imago]
Fußball-Weisheit #64: „Ich habe ihn ausgewechselt, weil ich einen anderen Spieler einwechseln wollte. Da musste ich einen auswechseln.“ (Ewald Lienen)
Da klimpert’s kräftig im Phrasenschwein. Wieder ein Beweis dafür, dass Fußball manchmal so beeindruckend simpel sein kann. Auf die Frage nach einem Wechsel gibt Ewald Lienen dem Reporter kurzerhand eine kostenfreie Nachhilfe-Stunde im Regelwerk. Leuchtet ein! Joel Grandke schreibt in seiner aktuellen FUSSBALL.DE-Kolumne Amateur-Alltag über die Topjoker unter den Bankdrückern.
BVB-Coach Lucien Favre weiß ebenfalls, wie man seine Spieler regelkonform durchtauscht. In den letzten Wochen hat der Schweizer dabei ein Händchen bewiesen, das seinesgleichen sucht. Als er beim offenen Schlagabtausch gegen den FC Augsburg seinen Edel-Joker Paco Alcácer aufs Feld schickte, definierte dieser den Begriff "Effizienz" neu. In 37 Minuten nutzte er seine 22 Ballaktionen, um seine Borussen mit einem Hattrick zum Sieg zu schießen. Den hollywoodreifen Abschluss (quasi im doppelten Sinne) besorgte er in der 96. Minute, als er einen direkten Freistoß herrlich zum 4:3-Endstand in die Maschen zirkelte. Nun mögen Kritiker sagen: "Jeder hat mal einen Sahne-Tag, an dem alles funktioniert…" Eine Eintagsfliege ist Sportsfreund Alcácer, dessen Kaufoption der BVB nun schon nach wenigen Wochen gezogen hat, aber keinesfalls. Bei seinen beiden vorherigen Einwechslungen gelangen ihm drei weitere Treffer, unter anderem machte ihn sein "Doppel-Paco" in Leverkusen zum unumstrittenen Matchwinner. Coach Favre beweist aber nicht nur mit dem Spanier, wie Spiele über die Bank gewonnen werden können. Seine "jungen Wilden" wirbelten vor allem in Person von Jadon Sancho und Jacob Bruun Larsen schon mehrfach gegnerische Abwehrreihen bei Kurzeinsätzen durcheinander.
Ersatzspieler als seltenes Kreisliga-Gut
"Noch drei Sprints und mir kommt mein Frühstück wieder hoch"
Kreisliga-Trainer würden sich die Finger nach Spielern solcher Qualität lecken. Von dem Luxus, entsprechende Kaliber dann auch noch von der Bank bringen zu können, ganz zu schweigen. Einige von ihnen würden es schon als Luxus empfinden, überhaupt mal ein bis drei Ersatzspieler im Kader zu haben. Kurz vor dem Treffen fliegen schließlich gern mal ein paar spontane Absagen rein. Von der urplötzlichen Grippe, die einen "zufällig" in der Nacht von Samstag auf Sonntag heimgesucht hat, bis zum fiebrigen Goldhamster, der nun dringend zum Tierarzt gebracht werden muss, könnten die Ausreden kaum lachhafter sein. Wenn Trainer im Amateurbereich aber eines lernen, dann ist es wohl die Improvisation. Schließlich muss zusätzlich herausgefunden werden, wer von den vorhandenen Spielern überhaupt in der körperlichen Verfassung ist, um von Beginn an aufzulaufen.
Die Wichtigkeit von Ersatzspielern ist auf diesem Niveau mindestens genauso hoch wie auf der professionellen Ebene. Denn: In einem Bundesliga-Kader sind im Zweifel alle unverletzten Spieler in der Lage, eine Partie über 90 Minuten zu bestreiten. Wie jeder aktive oder ehemalige Hobby-Kicker weiß, ist das in der Kreisliga mitnichten der Fall. Schon in der Halbzeitpause werden zwei bis sechs Spieler beim Coach persönlich vorstellig, um für die eigene Auswechslung zu werben. Entweder über die ehrliche "Noch drei Sprints und mir kommt mein Frühstück wieder hoch"-Variante oder in der leicht geflunkerten "Ich habe da so ein Ziehen im Oberschenkel und weiß nicht, wie lange das noch gut geht"-Version, die die eklatanten Konditionsprobleme verschweigt.
Der Trainer muss an dieser Stelle auf vielen Ebenen abwägen. Sollte er überhaupt drei Spieler auf der Bank haben, wäre eine sofortige Einwechslung des Trios mit Risiko verbunden. Oftmals sitzen auf der Bank nämlich die Kollegen, für die ein 45-Minuten-Einsatz einem persönlichen Iron-Man-Gewaltmarsch gleichkommt. So ist es schon vorgekommen, dass ein Joker bereits mit Krämpfen auf dem Rasen lag, bevor es einen der Jungs aus der Startelf traf. Eine weitere Gefahr, die ein frühes Ausschöpfen des Wechselkontingents nach sich ziehen würde, liegt in den oftmals körperbetonten Partien. Wenn es besonders hitzig wird, kann es durchaus hilfreich sein, seinen altbekannten "Aggressive Leader" nach der dunkelgelben Karte und dem bereits dritten Anschlussfoul mit "allerletzter Ermahnung" noch austauschen zu können. Ein unfitter Spieler ist im Zweifel immer noch hilfreicher als ein vom Platz gestellter.
Stämmiger Libero als neuer Flügelflitzer
Darüber hinaus ist der Kreisliga-Coach bei vielen Wechseln zum Puzzlen gezwungen. Jeder wäre problemlos in der Lage, Mittelstürmer gegen Mittelstürmer oder Flügelspieler gegen Flügelspieler zu tauschen. Dieser Anfänger-Schwierigkeitsgrad wird im Amateurbereich aber nicht angeboten. Wenn der kleine Außenspieler nach 60 Minuten aus dem letzten Loch pfeift, steht in den seltensten Fällen sein Zwillingsbruder als Ersatz bereit. Stattdessen sitzt lediglich der 100-Kilo-Libero der Alten Herren zur Verfügung, der sich dankenswerterweise zum Aushelfen bereit erklärt hat. Nun ist es relativ aussichtslos, den Kollegen mit langen Bällen die Seitenlinie hochzujagen. Also muss geschoben werden: Entweder rutscht ein schnellerer Spieler aus der Mitte nach außen oder das System wird kurzerhand umgestellt.
Wir halten fest: In der Kreisliga nehmen fähige Ersatzspieler eigentlich eine bedeutsamere Rolle als in der Bundesliga ein – sofern dem Trainer denn überhaupt welche zur Verfügung stehen. Aufgrund gewisser Fitnessdefizite einiger Starter wäre ihr Einsatz zumindest vorprogrammiert. Das Problem: Temporeiche und dribbelstarke Spieler à la Alcácer oder Sancho, die ein Spiel im Alleingang drehen können, sind in den niedrigsten Spielklassen der Republik natürlich selten. Und wer einen solchen "Unterschiedsspieler" tatsächlich in seinen Reihen hat, wird ihn kaum für einen Kurzeinsatz auf der Bank zurückhalten können. Hier muss mit dem gearbeitet werden, was die Passmappe eben hergibt. Solange man beim Wechsel auf die lienen’schen Grundregeln achtet, kann man immerhin noch die Daumen drücken, dass der Joker einfach mal einen dieser berühmten Sahne-Tage erwischt. Er muss den Ball in der 96. Minute ja auch nicht technisch anspruchsvoll in den Winkeln drehen, sondern kann ja auch im Getümmel nach einer Ecke angeschossen werden und dabei zufällig den Siegtreffer erzielen. Beim Jubeln sollte er sich dann nur etwas zurückhalten, bevor die Krämpfe noch vor Abpfiff einsetzen.
Joel Grandke, Buchautor und aktiver Amateurkicker aus Hamburg, spürt in seiner wöchentlich auf FUSSBALL.DE erscheinenden Kolumne der Faszination Amateurfußball nach. Stets mit einem Augenzwinkern.