Amateurkolumne |17.03.2018|12:00

Amateurcoach als letzter Ausweg

HSV-Trainer Christian Titz (l.) von der Regionalliga in die Bundesliga: Die letzte Patrone im Lauf?[Foto: imago/Oliver Ruhnke]

Der Trainerstuhl beim Hamburger SV ist ein Schleudersitz, das weiß inzwischen jedes Kind. Gerade im Abstiegskampf ziehen die Klubs die Reißleine - und der HSV setzt nun auf einen Trainer aus dem Amateurbereich. Ist das der richtige "Hamburger Weg"? Die neueste Folge der FUSSBALL.DEKolumne Amateur-Alltag von Joel Grandke.

Fußball-Weisheit #21: Jetzt müssen wir die Köpfe hochkrempeln. Und die Ärmel natürlich auch.“ Da klimpert‘s kräftig im Phrasenschwein. Lukas Podolski weiß als erfahrener Spieler natürlich längst, worauf es in Krisensituation ankommt. Fußball ist zu einem großen Teil Kopfsache. Die Kicker müssen Niederlagen wegstecken und an sich glauben – egal wie viele Partien auch in Folge verloren wurden. Dieses Selbstvertrauen scheint dem Hamburger SV inzwischen vollends abhanden gekommen zu sein. Die Bilanz unter Ex-Trainer Bernd Hollerbach liest sich erschreckend: sieben Spiele, zwei Unentschieden, fünf Niederlagen. Nach nur wenigen Wochen wurde Hollerbach wieder vor die Tür gesetzt. Er war der 15. HSV-Trainer innerhalb der letzten zehn Jahren – ein Bundesliga-Trainerstuhl entpuppt sich als Schleudersitz. Selbst der Glaube an die Unabsteigbarkeit des Bundesliga-Dinos scheint diese Saison kaum noch zu reichen. Wer kann diesen chaotischen Abstiegskandidaten, der bereits sieben Punkte Rückstand auf den Relegationsplatz aufholen muss, nun überhaupt noch retten?

Die letzte Patrone im Lauf, mit der sich der Verein noch von den Abstiegsrängen schießen will, kommt natürlich aus dem Amateurbereich. Christian Titz (46) trainierte die HSV-Reserve-Mannschaft in der Regionalliga Nord zuletzt mit großem Erfolg, nun soll er eine Mischung aus offensiver Spielidee und Selbstbewusstsein in die verunsicherte Profitruppe pumpen. Zugegeben: Die Leistungsspanne im „Amateurbereich“ ist riesig. Ein Gleichsetzen der Kreisliga C und der Regionalliga Nord wäre ungefähr so, als würde man den Deutsch-Förder-Kurs an der Grundschule auf eine Stufe mit einer Germanistik-Vorlesungsreihe im Masterstudiengang (Thema: Bürgerliche Lustspiele der Frühaufklärung) stellen. Dennoch liegt es auf der Hand, dass der HSV jemanden aus den unteren Ligen als Feuerwehrmann rekrutiert. Hier lernt man schließlich schon ab der Kreisliga, was es heißt, nach dem letzten Strohhalm zu greifen – und das gilt nicht nur für den Sangria-Eimer bei der Mannschaftsfeier.

Das Trainerdasein ist schließlich auch im Amateurbereich ein hartes Brot. Dort sind natürlich keine unzähligen Kameras auf einen gerichtet. Auch der Druck des Vorstands ist in der Regel nicht so hoch wie im Profigeschäft. Dennoch warten hier zahlreiche Herausforderungen. Der Coach ist Motivator, Taktikfuchs, Seelsorger und nicht selten auch Kindergärtner zugleich. Er muss schließlich rund 20 mehr oder weniger junge Männer über eine gesamte Saison bei Laune halten, denen man nicht mal vorhalten kann, dass sie den Fußball beruflich betreiben und dafür Millionen kassieren. Das führt dazu, dass sogar erfahrene und stressresistente Kita-Erzieher als Amateurtrainer schnell an ihre Grenzen gelangen würden.

Trainer balancieren auf Drahtseil

Das äußert sich in vielerlei Hinsicht. Einer der Spieler hält sich für einen unumstrittenen Stammspieler und mault auf der Bank herum, als hätte ihm jemand im Sandkasten die Schaufel geklaut. Sein Kollege auf dem Platz weigert sich unterdessen, die Ecken zu schießen, da er die aussichtsreichen Freistöße ja auch nicht mehr treten darf: „Pah! Wenn jemand angeblich mehr Gefühl im Fuß hat als ich, dann soll er doch gleich alle Standards treten. Ich bin doch kein Vorlagensklave...“ Zeitgleich fühlt sich der Manndecker falsch positioniert. Er sieht seine Qualitäten in der Offensive und meint, dass er stattdessen den Flügelstürmer geben müsste. Sein Plan: So lange jedem Zweikampf aus dem Weg gehen, bis der Coach gezwungen ist, ihn aus der Abwehrreihe nach vorne zu ziehen. Er vergisst dabei allerdings, dass der Trainer ihn auch einfach auswechseln und in Zukunft auf der Bank versauern lassen könnte. So ganz leicht würde ihm diese Entscheidung aber auch nicht fallen, da der einzige Ersatzspieler auf dieser Position ein unmotivierter Altherren-Spieler ist, der zuletzt vor drei Monaten am Training teilgenommen hat. Es wäre sicher auch nicht das beste Zeichen für die Kollegen, wenn er einen solchen Spieler in die Startelf stellen würde.

Bei all den Problemen, die es im Amateur-Alltag zu bewältigen gilt, balancieren die Trainer auf einem Drahtseil, auf das aus allen Richtungen kräftiger Wind geblasen wird. Und um die Schwierigkeit noch zu erhöhen fährt er dabei auf einem Einrad und jongliert mit bunten Bällen. Ein kompliziertes Unterfangen, hier das Gleichgewicht zu halten. Auf der einen Seite soll jeder Spieler seine Einsatzzeit bekommen, auf der anderen Seite möglichst immer die stärkste Mannschaft auf dem Platz stehen. Gute Laune hat alleine noch kein Spiel gewonnen. Da zitiere ich immer gern den walisischen Fußballtrainer John Toshack, der es ganz philosophisch auf den Punkt brachte: „Manchmal habe ich schon Bock, auch andere Spieler einzusetzen. Aber am Ende spielen doch immer wieder die gleichen Arschlöcher.“

Immerhin: Bei Profi-Vereinen ist die Leistungsdichte in der Regel deutlich höher als bei Zweitherrenmannschaften in der Kreisliga C, die gerade so 12 bis 13 Kicker am Sonntag zusammenkratzen. Hier kann man durchaus mal einen Spieler austauschen, ohne damit den einzigen Mann auf der Bank zu lassen, der unfallfrei einen Pass geradeaus spielen kann. Christian Titz tat nach seinem Amtsantritt beim HSV dann auch das, was jeder Kreisliga-Trainer an seiner Stelle wohl auch getan hätte: Er genoss die Auswahl im Kader. So versammelten sich unter der Woche satte 33 Spieler auf dem HSV-Trainingsgelände. Ein Kreisliga-Trainer wäre mit dieser Anzahl an Spielern sicherlich erstmal überfordert. Was ihn allerdings positiv überrascht hätte: Anstatt mit einem kleinen Hühnerhaufen an einer einfachen Abschlussübung zu scheitern, hören die Profis aufs Wort und zeigen Spielverständnis. Und der allergrößte Traum der Amateur-Coaches: Hier hat kein einziger Spieler seine Laufschuhe vergessen.

An dieser Stelle sei noch mal betont, dass der Kollege Titz schon seit vielen Jahren auf hohem Niveau Fußball unterrichtet. Aus Sicht der Amateurfußball-Fans ist es dennoch ein starkes Zeichen, dass einem Mann wie ihm – ohne je eine Cheftrainer-Stelle in den ersten drei Ligen innegehabt zu haben – nun die Rettung des Bundesliga-Dinos obliegt. Und wer im Amateurbereich langfristig Erfolg hat, wird sicher auch mit allen Wassern gewaschen sein. Wenn es also jemand schaffen sollte, die Köpfe und Ärmel der HSV-Profis hochzukrempeln, dann ein Mann wie er.

Joel Grandke, Buchautor und aktiver Amateurkicker aus Hamburg, spürt in seiner wöchentlich auf FUSSBALL.DE erscheinenden Kolumne der Faszination Amateurfußball nach. Stets mit einem Augenzwinkern.