Amateur-Alltag: Chaotisches Taktiktraining
Löw gibt Anweisungen: Wie bei den Profis ist das Taktiktraining auch im Amateurbereich von größter Bedeutung.[Foto: 2013 AFP]
Für Bundestrainer Joachim Löw gilt es im WM-Trainingslager in Eppan seine Spieler aus den verschiedenen Clubs zu einer Einheit zu formen. Neben dem Teambuilding liegt das Augenmerk darauf, die taktischen Feinheiten auf einen Nenner zu bringen. Auch im Amateurbereich ist das Taktiktraining von größter Bedeutung. Welches Chaos bei einem zusammengewürfelten Kreisliga-Haufen entstehen kann, weiß jeder, der schon mal selber gegen den Ball getreten hat. Hier die neueste Folge der FUSSBALL.DE-Amateur-Kolumne Amateur-Alltag von Joel Grandke.
Fußball-Weisheit #42: „ Sie spielen taktisch gut, obwohl sie ohne Taktik spielen.“ Da klimpert‘s kräftig im Phrasenschwein. Das DFB-Team macht sich dieser Tage im schönen Südtirol fit für die anstehende Weltmeisterschaft. Bei perfekten Rahmenbedingungen gilt es für Jogi Löw hier, seine Spieler auf die große „Mission Titelverteidigung“ einzuschwören. Die Qualität seiner Mannen ist unbestritten: Der deutsche Kader ist gespickt mit Topspielern, die in verschiedensten europäischen Ligen auf dem höchsten Niveau aktiv sind. Für unseren Bundestrainer gilt es nun, die Kicker aus den verschiedenen Clubs zu einer Einheit zu formen. Neben dem Teambuilding liegt das Augenmerk vor allem darauf, die taktischen Feinheiten auf einen Nenner zu bringen. Der komplette WM-Kader muss Jogis Spielidee schnellstmöglich und bestmöglich verinnerlichen. Mit ihren Vereinskollegen kicken die Jungs das ganze Jahr über zusammen, sodass dort meist ein Rädchen wie frisch geölt ins andere greift. Im Kreise der Nationalmannschaft stehen die Jungs natürlich auch nicht zum ersten Mal gemeinsam auf dem Platz, aber so viel Zeit zum gemeinsamen Training bleibt ihnen freilich nicht. Die zwei Wochen in Südtirol geben nun den Raum, um ins Detail zu gehen.
Im Amateurbereich ist das Taktiktraining ebenfalls von größter Bedeutung. Welches Chaos bei einem zusammengewürfelten Kreisliga-Haufen entstehen kann, weiß jeder, der schon mal selber gegen den Ball getreten hat. Das eingangs genannte Zitat von Udo Lattek wird daher gern mal zur Wirklichkeit. Der Trainer hat zwei Möglichkeiten, diese Problematik anzugehen: Einerseits kann er beim Training natürlich der Hälfte der Spieler ein Leibchen in die Hand drücken und einfach einen Ball in die Mitte werfen. Aufgrund ihrer „Erfahrung“ wissen die Jungs dann schon von selbst, wie sie sich einzuteilen haben. Der mit dem härtesten Schuss macht den letzten Mann oder geht in den Sturm, die schnellen Spieler irgendwie nach außen und der Rest findet schon während des Spiels seinen Platz. Bei beiden Teams teilt sich die Truppe dann mit zunehmender Erschöpfung in eine Sturm- und eine Abwehrreihe ein. Erstere bleibt einfach entkräftet vorne stehen und wartet, bis die zwei bis drei Abwehrspieler den Ball blind nach vorne bolzen. Das ist erstens nicht schön anzusehen und hat zweitens mehr mit Harakiri als mit irgendeiner Form von Taktik zu tun. „Am Ende gewinnt eh die Mannschaft, die mehr kämpft“, hört man den taktiklosen Trainer dann fachsimpeln. „Wir sind hier beim Fußballspiel und nicht bei der Vorlesung für Astro-Physik.“
Generation der analogen Laptop-Trainer
"Wir sind hier beim Fußballspiel und nicht bei der Vorlesung für Astro-Physik"
Ohne die Wichtigkeit kämpferischer Grundtugenden infrage zu stellen, gibt es andererseits aber die Mehrzahl der Trainer, die zumindest versucht, eine gewisse Struktur ins Spiel ihrer Truppe zu bekommen. Die besonders motivierte Zunft rüstet sich dafür extra mit einem Taktikboard aus und gibt sich quasi als analoge Generation der Laptoptrainer. Beim Training steht der Coach dann hochmotiviert an seinem Board und zeichnet mit abwischbaren Markern verschiedene Spielsituationen auf. Vom Gegenpressing über das korrekte Verschieben der Viererkette bis hin zum Spielaufbau durch die zentralen Positionen: Aufgeregt gestikulierend erklärt er seinem Team, wohin er die Mannschaft in Zukunft taktisch bringen möchte. Er malt wilde Pfeile kreuz und quer über das Feld – teils mit gestrichelten Linien, teil in Zickzack-Bewegungen. Er hat sich offenbar in reichlich Fachlektüre eingelesen.
Je nach Spielermaterial fällt die Reaktion seiner Männer ganz unterschiedlich aus. Einer der Jungspieler rollt während der ausgiebigen Erläuterungen kaugummikauend mit den Augen, als hätte er das alles schon hundertmal gehört. Woher die Überheblichkeit kommt? Naja, er beherrscht mit seinem FIFA-Team auf der Playstation immerhin zehn verschiedene Spielsysteme, mit denen er auf der höchsten Schwierigkeitsstufe erfolgreich ist. Da wisse er also längst, wie der Hase zu laufen habe. Der Kapitän der Truppe verfolgt hingegen jeden einzelnen Strich des Trainers mit voller Konzentration. Im Kopf geht er währenddessen bereits Spielsituationen durch und überlegt, wie er sie nach der Vorgabe des Trainers lösen könnte. Der Libero des Teams ist ein eher „einfacher“ Spielertyp, zeigt sich aber immerhin bemüht. Er unterbricht den Coach nach einigen Minuten für eine Nachfrage, die deutlich macht, dass er bis zu diesem Zeitpunkt nicht verstanden hat, wer auf dem Board die Angreifer und wer die Verteidiger sind. Als Kreisklassen-Coach ist da Geduld und pädagogisches Gespür gefragt, schließlich müssen alle Spieler mitgenommen werden. Sollte ein Spieler in der Viererkette nicht wissen, wohin er zu laufen hat, läuft der gegnerische Stürmer dank defekter Abseitsfalle im Minutentakt allein aufs Tor zu.
Lernen wie in der Fahrschule
Um sicher zu gehen, dass es im Punktspiel nicht dazu kommt, geht der Coach wie in der Fahrschule vor: Auf die Theorie-Stunde folgt die praktische Prüfung. Er kennt seine Jungs natürlich gut genug, um zu wissen, dass nicht alle Taktiken auf Anhieb funktionieren werden. Wie hart er mit seinen bereits gebremsten Erwartungen allerdings noch auf dem Boden der Tatsachen aufschlägt, hätte er selbst nicht für möglich gehalten. Anstatt sich an einem ruhigen und geduldigen Spielaufbau zu versuchen, spielen die Verteidiger entweder ihren Torwart an oder kloppen den Ball sicherheitshalber ins Aus. Das Schlimmste daran: Das Spiel wird zu diesem Zeitpunkt noch ohne Gegenspieler simuliert. Es handelt sich um eine Trockenübung. Der Trainer hat gar nicht genug Puste für seine Trillerpfeife, so oft möchte er das Trainingsspiel unterbrechen.
Wer seine Kreisliga-Truppe zu einer taktisch gut geschulten Mannschaft formen will, braucht Nerven wie Drahtseile. Ein alter Trainer von mir hat es mal mit dem Großziehen eines Kindes beschrieben: „Es bringt dir schlaflose Nächte und du zweifelst immer wieder, warum du dir das überhaupt angetan hast. Du hast auch längst den Glauben verloren, dass es jemals besser wird. Doch in diesem einen kurzen Moment, in dem dein Team über zwei oder drei Passstationen das umsetzt, was du über Monate mit ihnen trainiert hast, dann ist es wie das berühmte Lächeln deines Babys: Dieses Lächeln macht all den Frust und all die Verzweiflung mit einem Mal vergessen.“ Während sich Bundestrainer Löw mit seinen taktisch perfekt ausgebildeten Kickern um die Feinheiten kümmert, wird er wohl nie diesen Moment der persönlichen Mondlandung kennen, den nur Kreisliga-Trainer in der Form erleben können: Es ist dieser eine vollkommen unspektakuläre Doppelpass an der Mittellinie, der nur einen kleinen Raumgewinn bedeutet, aber zu Tränen rühren kann.
Joel Grandke, Buchautor und aktiver Amateurkicker aus Hamburg, spürt in seiner wöchentlich auf FUSSBALL.DE erscheinenden Kolumne der Faszination Amateurfußball nach. Stets mit einem Augenzwinkern.