Am 18. September 1976 steht Gerd Lamatsch auf dem Fußballplatz. Er weiß das heute noch genau, denn er ist ein guter Buchhalter. Der Spätsommertag vor fast einem halben Jahrzehnt ist ein ganz Besonderer für ihn – sein erster Einsatz als Schiedsrichter. 16 Jahre ist er jung, dass ein Jugendlicher ein Fußballspiel leitet, ist zu der Zeit fast schon exotisch. Noch heute nimmt Gerd Lamatsch mit viel Freude die Pfeife in den Mund, seit seinem Debüt 1976 sind fast 1900 Einsätze als Unparteiischer hinzugekommen – das spuckt seine Exceltabelle aus, die seine früheren handschriftlichen Einträge längst abgelöst hat. Gerd Lamatsch ist aber nicht nur Schiedsrichter, sondern inzwischen auch zweifacher Buchautor. Nach "Rasen-Schiri" kam vor drei Jahren "Keller-Schiri". In diesem Titel setzt sich der 63-Jährige, hauptberuflich im Vertrieb bei der Stadtreklame Nürnberg, mit dem schwierigen Thema VAR auseinander.
FUSSBALL.DE: Herr Lamatsch, Sie haben sich mit dem Thema intensiv auseinandergesetzt: Wie bewerten Sie den VAR?
Gerd Lamatsch: Da führt ein meiner Meinung nach sehr gutes Instrument leider inzwischen zu so ausufernden Diskussionen und so viel Kritik, dass die positive Seite der Medaille umgekehrt wird. Als der Video-Assistent eingeführt wurde, habe ich gesagt: Das wurde aber auch Zeit! Der VAR, wenn er richtig zum Einsatz kommt, macht den Fußball gerechter. Ein Großteil der Entscheidungen, die aus dem Video-Assist-Center kommen, sind auch richtig. Aber einige wenige Fehleinschätzungen sorgen dafür, dass insgesamt in Frage gestellt wird, ob er wirklich gut für den Fußball ist.
Was meinen Sie genau?
"Ich sehe ihn gerne auf dem Platz, er hat eine starke Ausstrahlung. Wir haben auch privat noch Kontakt, Deniz Aytekin kommt ja auch aus Nürnberg."
Lamatsch: Der Fußball lebt von Emotionen, aber Spieler, Trainer und Fans wissen nach einem Tor nicht, ob ihr Jubel vielleicht zu früh kommt. Und es gibt nach meinem Empfinden auch zu viele Spielunterbrechungen, weil der VAR in Situationen eingreift, bei denen ein Signal aus dem VAC eigentlich nicht kommen dürfte. Bei der Einführung des Video-Assistenten wurde schließlich klar festgelegt, dass er nur in vier Fällen eingreifen und den Hauptschiedsrichter anfunken darf: Tor, Strafstoß, Rote Karte und Spielerverwechslung bei einer Karte. So wird es auch gehandhabt, aber vor allem bei Handspielen im Strafraum ist eine Grauzone entstanden, sodass die meisten Beteiligten nicht mehr richtig durchblicken.
Zum Beispiel?
Lamatsch: Da fällt mir der Dortmunder Marius Wolf im Champions-League-Spiel bei Chelsea ein, als der Hauptschiedsrichter die Szene gesehen und als nicht strafbar bewertet hat, sich dann aber der VAR eingeschaltet hat. Dann hat sich Danny Makkelie die Szene mehrfach am Monitor angesehen und hat auf den Punkt gezeigt, weil in irgendeiner Zeitlupeneinstellung sicher eine unnatürliche Handbewegung zu erkennen war. So ist es laut Protokoll aber nicht vorgesehen, sondern der VAR soll sich nur dann melden, wenn eine klare Fehlentscheidung vorliegt oder der Feldschiedsrichter eine Szene gar nicht gesehen hat.
Sie pfeifen zwar nicht in den höchsten Ligen, sind aber immer noch dabei. Macht denn das Schiedsrichter-Sein nach wie vor Spaß?
Lamatsch: Auf jeden Fall! Ich bereue überhaupt nicht, dass ich damit vor langer Zeit angefangen habe und freue mich immer noch auf jeden Einsatz. Natürlich hat sich der Fußball auch im Amateurbereich im Laufe der Zeit verändert, aber ich bin mit Leidenschaft Schiedsrichter und kann nur jedem Menschen, der sich für Fußball interessiert, ans Herz legen, sich für einen Schiedsrichter-Lehrgang anzumelden.
Wie kamen Sie an die Pfeife?
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Lamatsch: Ganz klassisch vom aktiven Fußball. Ich habe mit zehn Jahren angefangen, beim Turnerbund Johannis 1888 in Nürnberg Fußball zu spielen. Weil in der Jugend oft kein offizieller Spielleiter angesetzt war, hat jemand aus dem Verein den Schiedsrichter gemacht. Das hat mich gestört, weil immer die Gefahr besteht, dass auf dem Platz Entscheidungen getroffen werden, die das eigene Team bevorteilen. Dann hat mein Trainer gesagt: "Gerd, du hast Zeit, du bist Schüler. Pfeife selbst mal zwei Spiele und dann sehen wir, ob daraus etwas wird."
Und?
Lamatsch: Ja, es hat funktioniert, obwohl ich mit Abstand der jüngste Schiedsrichter in der Gegend war. In ganz Bayern gab es keinen 16-Jährigen, der Spiele geleitet hat, anfangs natürlich nur in der Jugend. Mit 20 war ich aber in der Herren-Bezirksliga und mit 21 in der -Landesliga angekommen. Da kam es manchmal dazu, dass die Trainer oder die Spieler, wenn sie unser Gespann gesehen haben, gefragt haben: "Wer ist denn von euch der Schiri, du, oder?" Und dann haben sie auf einen meiner Linienrichter gezeigt. (lacht)
Später sind Sie auch im Profifußball angekommen…
Lamatsch: Damals war es nicht leicht, als Schiedsrichter hochzukommen. 1990 hat aber ein langjähriger Kollege aus der Bayernliga, das war damals die dritthöchste Spielklasse, aufgehört, und ich konnte seinen Platz einnehmen. Zu der Zeit wurde ich auch als Assistent in der 2. Liga eingesetzt und war zum Beispiel am Millerntor auf St. Pauli an der Linie. Das war ein super Erlebnis. Außerdem habe ich in der Zeit einen jungen Anwärter kennengelernt, der inzwischen schon mehrfach als Schiedsrichter des Jahres in Deutschland ausgezeichnet worden ist.
Wer denn?
Lamatsch: Deniz Aytekin. Das war damals schon so eine Bohnenstange. (lacht) Er war in den 90ern drei Jahre lang Assistent in meinem Gespann und hat eine tolle Entwicklung als Schiedsrichter hinter sich. Ich sehe ihn gerne auf dem Platz, er hat eine starke Ausstrahlung. Wir haben auch privat noch Kontakt, er kommt ja auch aus Nürnberg.
Wie lange wollen Sie noch pfeifen?
Lamatsch: Solange es mir Spaß macht und ich dafür fit genug bin. Ob das noch drei oder fünf oder noch mehr Jahre sein werden, kann ich heute nicht sagen. Ich pfeife aber nur noch Juniorenspiele, weil ich der Jugend etwas von meiner Erfahrung im Fußball zurückgeben möchte. Außerdem halte ich ab und zu Vorträge über das Schiedsrichterwesen, wenn Vereinsvertreter auf mich zukommen, weil sie eines meiner Bücher gelesen haben oder mich als Unparteiischen kennen. Ich habe auch ein freizugängliches Dokument produziert, das heißt "Schirifibel für Fußballvereine", in dem ich mein Wissen übers Schiedsrichtern weitergebe. Sie merken, das Thema lässt mich nicht los.
Autor/-in: Günter Schneider