Einst schlich sie sich heimlich aus dem Haus, um Fußball spielen zu können, dann pfiff sie auch noch als Schiedsrichterin. Heute blickt Ruth Butzen auf fast 3000 Spiele als Unparteiische zurück – und auf einen erfolgreichen Kampf für Gleichberechtigung. Die 65-Jährige ist unsere FUSSBALL.DE-Kultfigur der Woche.
Am Anfang der Karriere waren vor allem gutes Timing und leise Sohlen gefragt. Sobald ihr Vater seinen Mittagsschlaf hielt, schlich sich Ruth Butzen zum Fußballspielen aus dem Haus. Sonntag für Sonntag ging das so. Drei Jahre lang. „Er war noch ein Mann alter Schule und der Meinung, dass Mädchen auf dem Fußballplatz nichts zu suchen haben. Für mich gab es aber von Kindertagen an kein anderes Spielgerät als den Ball“, erinnert sich die Stolbergerin. Die Mutter sei hingegen toleranter gewesen und habe sie immer gedeckt und unterstützt. Doch irgendwann war es vorbei mit der Geheimhaltung. Butzen hatte sich bei einem ihrer Einsätze als Torhüterin des FC Adler Werth so schwer verletzt, dass sie ins Krankenhaus musste. „Davon hat natürlich auch mein Vater erfahren und von da an wusste er Bescheid“, sagt Butzen. Der Senior habe ein ordentliches Donnerwetter losgelassen, „doch ich war zu diesem Zeitpunkt schon so alt, dass er es mir nicht mehr verbieten konnte“, erklärt die heute 65-Jährige, die ihre Karriere mit stoischer Gelassenheit fortsetzte und noch einige Jahre für den Klub, der 2009 mit dem SV Gressenich zur SG Stolberg fusionierte, als Torhüterin auflief.
Die Gabe, Widerstand und Gegenwind auszuhalten und nicht in die Knie zu gehen, kam ihr aber nicht nur in diesen frühen Tagen der Laufbahn auf dem Sportplatz zu Gute. Denn Butzen, die als 17-Jährige begonnen hatte, in ihrem Heimatverein zu kicken, betrat noch einige weitere Male Neuland. „Und wer ungewohnte Dinge tut, hat es eben nicht immer leicht“, sagt sie. Ein einschneidendes Datum war in dieser Hinsicht der 22. Oktober 1977. An diesem Tag startete Butzen eine zweite Karriere auf dem Fußballplatz: sie leitete ihr erstes Spiel als Schiedsrichterin. Dass 2699 weitere offizielle Einsätze als Unparteiische oder Schiedsrichter-Assistentin folgen sollten, ahnte sie damals nicht. „Zunächst habe ich auch nur neben der aktiven Karriere gepfiffen, aber irgendwann ging nicht mehr beides“, sagt sie. Butzen wurde Schiedsrichterin – durch und durch. 40 Jahre lang.
Rasante Entwicklung
"Ich kann nur jedem Mädchen und Jungen empfehlen, auch Schiedsrichter zu werden. Man muss auf dem Platz schnell reagieren und Entscheidungen treffen. Man lernt, mit den Emotionen anderer klarzukommen und erlangt ein enormes Durchsetzungsvermögen"
Bereut hat sie das nie. „Nicht eine Sekunde“, sagt sie. Trotz all der Freizeit, die sie dieser Passion geopfert habe. „Und ich kann nur jedem Mädchen und Jungen empfehlen, auch Schiedsrichter zu werden“, erklärt sie. Denn dieser Job gebe einem so viel. „Man muss auf dem Platz schnell reagieren und Entscheidungen treffen. Man lernt, mit den Emotionen anderer klarzukommen und erlangt ein enormes Durchsetzungsvermögen“, sagt die einstige kaufmännische Angestellte. Das stärke das Selbstvertrauen. Außerdem komme man wirklich viel herum und mit interessanten Menschen in Kontakt. Auf den Fußballplätzen rund um die 55.000-Einwohner-Stadt Stolberg nahe Aachen kennt Butzen eine Vielzahl von Aktiven, Trainern und ehrenamtlich engagierten Menschen. „Und die allermeisten kennen auch mich“, sagt die 65-Jährige. Von der Skepsis und den Vorurteilen von einst ist nicht viel geblieben. „Ich werde eigentlich überall freundlich begrüßt, die Menschen haben mich als gute Schiedsrichterin in Erinnerung behalten“, sagt Butzen, die heute nur noch selten in ihren Unparteiischen-Dress schlüpft. Doch als Schiedsrichter-Beobachterin und Mitglied im Schiedsrichterausschuss des Kreises Aachen ist sie immer noch nah dran am Geschehen.
Daher weiß sie auch, wie viel sich verändert hat. Der Frauenfußball habe sich enorm weiterentwickelt, sei schneller und attraktiver geworden, sagt sie. Und auch Schiedsrichterinnen würden heute nur noch selten schief angeguckt. „Ich war damals noch eine Vorreiterin. Männer konnten in den 70er- und 80er-Jahren mit Frauen an der Pfeife nicht viel anfangen“, sagt sie. Skepsis und Ablehnung seien normal gewesen. „Mich hat das einerseits wütend gemacht, andererseits aber auch motiviert weiterzumachen“, erklärt die Stolbergerin. Zumal nach den Spielen nicht selten die zuvor größten Nörgler die dicksten Komplimente gemacht hätten.
Und noch etwas hat Butzen stets in ihrem Engagement beflügelt: die vielen Reisen. Sie leitete Spiele in den USA und bei Turnieren in Spanien. Und natürlich überall in Deutschland. Kein Wunder, dass sie heute noch von namhaften Ex-Spielerinnen wie Birgit Prinz oder Steffi Jones erkannt wird. „Ich habe schließlich vor vielen Jahren Spiele mit ihrer Beteiligung gepfiffen“, sagt sie. Bei aller Veränderung gibt es immer noch Momente, die aus Butzens Sicht in puncto Gleichberechtigung bahnbrechenden Charakter besitzen.
Als mit Bibiana Steinhaus vor wenigen Wochen erstmals eine Schiedsrichterin eine Partie in der Senioren-Bundesliga leitete, verfolgte Butzen dies mit einer Mischung aus Freude und Stolz. „Denn ich habe 40 Jahre lang dafür gekämpft, dass nicht das Geschlecht, sondern die Leistung bei der Beurteilung im Vordergrund steht“, sagt sie. Dass Butzen bei diesem Kampf erfolgreich war, wird niemand bestreiten. Auf leisen Sohlen muss sich heute jedenfalls kein Mädchen mehr für den Fußball aus dem Haus schleichen.