Der Fußball boomt. Jedes Jahr vermeldet der Deutsche Fußball-Bund (DFB) neue Rekordzahlen in der Mitgliederstatistik. Fast sieben Millionen Fußballerinnen und Fußballer sind in den Landesverbänden des DFB gemeldet und jedes Jahr werden es mehr. Doch beim Übergang von den B- zu den A-Junioren gibt es einen kleinen Knick, seit 2010 mussten sich in Deutschland 2717 Nachwuchsteams vom Spielbetrieb abmelden, weil die Spieler fehlten.
Verhältnismäßig viele Abmeldungen gibt es im Bereich von C-Jugend bis zur A-Jugend. Jun.-Prof. Dr. habil. Torsten Schlesinger von der Technischen Universität Chemnitz hat den sogenannten "Drop-Out" mit seinem Forschungsteam genauer untersucht. Im Interview mit FUSSBALL.DE spricht der Sportsoziologe anlässlich unserer Themenwoche Nachwuchsfußball über Gründe für Vereinsaustritte und erklärt, was Trainer, Vereine und Verbände unternehmen können, um den Drop-Out zu stoppen.
Herr Schlesinger, was hat Sie dazu veranlasst, sich mit der Häufung von Spielerabmeldungen im älteren Jugendfußball zu befassen?
Torsten Schlesinger: Der DFB hat bei den C-Junioren bis hin zu den A-Junioren einen großen Drop-Out festgestellt und ist daraufhin auf uns zugekommen. Für uns war es zunächst überraschend, wie viele Mannschaften sich dadurch vom Spielbetrieb anmelden mussten. Seit 2010 sind das immerhin 2717 Nachwuchsteams gewesen. Da haben wir gesehen, dass sich ein Trend abzeichnet und offensichtlich ein Problem vorliegt. Wir haben dann im Auftrag des DFB mehrere nationale und internationale Studien zum Thema Drop-Out im Fußball aber auch sportartenübergreifend analysiert und ausgewertet.
"Es ist wichtig, dass der Trainer seine Einheiten der jeweiligen Altersklasse anpasst. So bleibt die Sportart für die Jugendlichen attraktiv"
Gibt es regionale Unterschiede?
Schlesinger: Die gibt es durchaus. Gemäß den Mitgliederstatistiken des DFB haben wir Regionen, in der die Anzahl der Mannschaften relativ stabil geblieben ist, einige Regionalverbände wie Hamburg oder Thüringen konnten sogar leichte Zuwächse verzeichnen. In anderen Regionalverbänden wie Bayern oder Sachsen-Anhalt lassen sich sinkende Zahlen beobachten.
Wie verhält es sich mit dem Drop-Out in ländlichen Regionen im Vergleich zu den Städten?
Schlesinger: Dieser Aspekt ist in Studien zum Drop-Out noch nicht genauer nachgezeichnet worden. Wir haben aber Studien zur Mitgliederbindung in Sportvereinen durchgeführt, die verschiedene Sportarten umfassen. Aus diesen geht hervor, dass ländliche Vereine weniger Probleme mit der Fluktuation ihrer Mitglieder haben. In diesen Regionen ist das Alternativangebot nicht so groß. Deshalb gibt es seltener die Überlegung, den Verein zu verlassen. In einem kleinen Dorf genießt der Verein oft einen höheren Stellenwert als soziale Institution. Und deshalb ist ein gewisser Druck vorhanden, Mitglied zu bleiben. Gleichwohl zeichnet sich auch im Fußball ab, dass im Zuge demografischer Entwicklungen die Vereine in kleineren Gemeinden immer größere Probleme haben, Mannschaften voll zu bekommen, weil es schlichtweg an Nachwuchs fehlt.
Ist dies alles ein männliches Phänomen?
Schlesinger: Das haben wir durch die Auswertung der Studien deutlich festgestellt. Der Drop-Out in der Altersklasse zwischen 15 und 18 Jahren zeigt sich bei den Fußballerinnen abgeschwächter.
Aus welchen Gründen verlassen die jungen Fußballer denn ihren Klub?
Schlesinger: Man muss sich davon verabschieden, dass es den einen Grund gibt. Es gibt verschiedene Gründe, die nicht nur auf unterschiedlichen Ebenen gelagert sind, sondern sich auch wechselseitig bedingen. Dadurch wird das Problem in der Lösung relativ komplex. Man kann also nicht sagen, man dreht an einer Schraube und beseitigt dadurch das Problem. Das wird nicht funktionieren. Wir betrachten den Drop-Out auf drei Ebenen. Zunächst geht es auf einer Mikroebene um sogenannte intrapersonale Bedingungen.
Welche Punkte gehören zu dieser Ebene?
Schlesinger: Es gibt zunächst mehrere fußballbezogene Faktoren. Dazu gehört das sogenannte Fähigkeitskonzept. Hier fragt sich der Fußballer, inwieweit er eine Sportart beherrscht. Wird die eigene fußballerische Kompetenz negativ eingeschätzt, wirkt das destabilisierend und kann zum Drop-Out führen. Wenn man sich im Vergleich zu Mitspielern als nicht gut genug einschätzt oder nicht besser wird, können auch die Motivation und der Spaß am Spiel nachlassen und mitunter kommen Versagensängste dazu. Es kann auch sein, dass der Jugendliche die Sportart einfach nicht mehr attraktiv genug findet, insbesondere wenn man nicht genug Spiel- und Einsatzzeiten bekommt oder sich auch am klassischen Wettkampfcharakter stört.
Wie äußert sich das?
Schlesinger: Wer Woche für Woche in der Liga trainieren und spielen muss, unterliegt einem hohen Verpflichtungsgrad. Dies kollidiert oftmals mit dem Bedürfnis von Jugendlichen nach zeitlicher Flexibilität und Selbstbestimmung in der Freizeitgestaltung. Außerdem gibt es Sportformate, die ein höheres Abgrenzungspotenzial oder spezifischen Szenecharakter aufweisen. Durch Sport auf dem Skateboard oder dem Snowboard können sich Jugendliche nicht nur einen bestimmten Lebensstil kreieren, sondern zugleich ihre Zugehörigkeit zu bestimmten Szenen dokumentieren. Dieses Potenzial ist beim Fußball weniger gegeben. Steigender Druck und eine unterschiedliche Zielvorstellung zwischen mir und meinen Teamkollegen sind ebenfalls Gründe für den Drop-Out. Und schließlich gibt es noch die körperlichen Entwicklungsnachteile, die zu nachlassender Begeisterung und Demotivation führen können. Allerdings dürfte der letzte Punkt im A-Jugend-Bereich nicht mehr so ausschlaggebend sein wie im C-Junioren-Bereich.
Welche Gründe für den Drop-Out haben Sie auf der nächsten Ebenen festgemacht?
Schlesinger: Hier geht es um die sogenannten interpersonalen Beziehungen. Oft nimmt für die Jugendlichen zwar der Einfluss des Elternhauses ab. Ihr Umfeld, das aus den sogenannten Peer Groups besteht, gewinnt jedoch an Bedeutung. Es kann sein, dass die Jugendlichen ihr Spielengagement reduzieren oder ganz aufhören, weil es zu Rollenkonflikten oder Akzeptanzproblemen innerhalb der Gruppe kommt, insbesondere wenn andere Freizeitinteressen präferiert werden.
Inwieweit kann ein Trainer den Drop-Out beeinflussen?
Schlesinger: Die Jugendlichen schauen sich genau an, wie dieser sich ihnen gegenüber verhält und die Mannschaft zum Beispiel in Bezug auf Gleichbehandlung führt oder wie er mit Konflikten umgeht. Auch die Begeisterungsfähigkeit, etwa durch attraktive Trainingsgestaltung und soziale Unterstützung eines Trainers, ist in dieser Altersklasse sehr wichtig. Wenn sich Spieler nicht so gut fühlen oder fußballerische Defizite haben, muss er sie auch mitnehmen und ihnen Einsatzchancen aufzeigen. Außerdem kann ein Trainingsalltag, der primär leistungsorientiert ist, die Attraktivität der Sportart mindern.
Was für eine Rolle spielt der Verein?
Schlesinger: Das soziale Miteinander und die Atmosphäre im Verein sind natürlich sehr wichtig. Wer sich nicht mit dem Verein identifizieren kann, neigt eher zum Drop-Out.
Kommen wir auf die dritte Ebene zu sprechen.
Schlesinger: Hier geht es um strukturelle Dinge. Der Faktor Zeit spielt eine große Rolle. Jugendliche wollen vielleicht nicht nur Fußballspielen, sondern haben auch andere zeitliche Verpflichtungen durch Schule, Ausbildung, Freunde treffen oder andere Freizeitaktivitäten wie E-Games spielen. Dann wird geguckt, ob das mit den starren Trainingszeiten vereinbar ist. Auch das Mannschaftssterben beeinflusst den Faktor Zeit. Es gibt immer mehr Spielgemeinschaften. Ligen werden zusammengelegt. Das führt zu längeren Anfahrten. Die Jugendlichen müssen für ihr Hobby also noch mehr Zeit aufwenden. Zudem wird in der Dienstleistungsgesellschaft auch die Angebotsstruktur hinterfragt. Ein unattraktives Trainingsgelände oder Vereinsheim kann den Jugendlichen ebenfalls zum Drop-Out bewegen.
Sie haben nun viele Gründe für den Drop-Out aufgezeigt. Wie kann man aber verhindern, dass die Jugendlichen sich vom Vereinsfußball abwenden?
Schlesinger: Hier muss man an verschiedenen Stellen ansetzen. Der Trainer ist natürlich immer eine wichtige Größe, weil er vieles direkt und indirekt beeinflusst. Die Trainerausbildung in Deutschland ist zwar sehr gut. Trotzdem ist es wichtig, dass der Trainer seine Einheiten der jeweiligen Altersklasse anpasst. So bleibt die Sportart für die Jugendlichen attraktiv. Wichtig ist auch, die sozialen Kompetenzen weiter zu schulen, so dass der Trainer Konflikte in der Mannschaft erkennt und in der Lage ist, diese zu lösen.
Was müssen die Vereine machen?
Schlesinger: Sie müssen die Bindung von jugendlichen Mitgliedern proaktiv steuern. Wenn Konkurrenzangebote weniger attraktiv erscheinen, kann der Drop-Out verhindert werden. Ein Beispiel: Ein Verein kann ein Fußballturnier mit anderen attraktiven Inhalten kombinieren wie mit einem anschließenden E-Gaming-Turnier. Die Spieler bleiben so länger im Verein und fühlen sich in ihren Bedürfnissen und Interessen besser angesprochen. Auch gemeinsame Camps sind attraktiv und stärken das Zusammengehörigkeitsgefühl. Außerdem sollte ein Verein für seine solidarischen Werte einstehen und diese auch den jüngeren Mitgliedern vermitteln. Jugendliche sollten etwa bei Veranstaltungen mehr eingebunden werden und dort auch Verantwortung übernehmen. Das fördert die Identifikation mit dem Verein.
Wie geht man mit Jugendlichen um, für die der Leistungsgedenke im Fußball nicht mehr wichtig ist?
Schlesinger: Hier müssen die Vereine ihre Ziele reflektieren. Die Frage lautet: Sehe ich mich als ein offener und sozialengagierter Jugendanbieter oder eher ein traditioneller Verein, der stark leistungsorientiert ist. Erstgenannter Typ kann alternative Angebote und Spielgelegenheiten schaffen, bei denen der Wettkampf nicht im Vordergrund steht. Für einen traditionellen Verein ist das natürlich schwieriger und sollte auch nicht umgesetzt werden. Es nützt ja nicht, eine neue Zielgruppe mit Angeboten zu bedienen, wenn gleichzeitig 20 andere Mitglieder den Verein verlassen, weil sie sich in der neuen Philosophie nicht mehr wiederfinden. Wichtig ist auch, die Förderung von Jugendlichen als Vereinsziel zu formulieren. Dadurch ist gewährleistet, dass sich der Verein regelmäßig mit den Belangen der Jugendförderung befasst. Auch stellt sich die Frage, wie sich Jugendliche in Entwicklungsprozesse einbinden lassen. Hier lässt sich nicht nur kreatives Potenzial erschließen, sondern man umgeht auch das Problem, dass Dinge über deren Köpfe hinweg entschieden werden.
Was können die Verbände machen?
Schlesinger: Sie können die Vereine durch Beratungsleistungen unterstützen. Dabei geht es aber nicht darum, Broschüren zu verschicken. Es sollte eine Beratung stattfinden, in der die einzelnen Problemlagen aus dem Selbstverständnis des jeweiligen Vereins erörtert werden. Viele Vereine haben das Problem Drop-Out erkannt. Im nächsten Schritt brauchen sie Unterstützung, um im Sinne einer „Hilfe zur Selbsthilfe“, Lösungen von innen heraus zu entwickeln.