Er hofft inständig, dass es nie so weit kommen möge. Aber falls doch, weiß er, was er zu tun hat: „Dann muss ich den Zahn ziehen und weiterspielen.“ Ertac Sulu müsste im wahrsten Sinne des Wortes nachziehen. Im Dezember 2014 hatte sich Aytac Sulu, Profi in Diensten des SV Darmstadt 98, in der Partie beim FC St. Pauli am Spielfeldrand einen nach einem Zweikampf lockeren Zahn gezogen – und weitergekickt. Ertac, Amateur in Diensten des FV Nußloch II in der Kreisklasse, müsste wohl oder übel dem Vorbild des großen Bruders folgen. „Ich dürfte keinen Rückzieher machen“, sagt der 24 Jahre alte Ertac.
"Durch ihn stehe ich selbst mit in der Bundesliga auf dem Platz"
Die Geschichte seines Bruders ist mittlerweile schließlich nicht mehr nur in Nußloch, dem Heimatdorf der Sulus, ganz in der Nähe des Hockenheimrings bei Heidelberg gelegen, bekannt. Denn Aytac Sulu ist der furchtlose Antreiber der wundersamen Lilien, die aus der 3. Liga in die Bundesliga durchmarschierten. Kapitän Sulu warf sich auch schon mit blutverschmiertem Turban und Carbonmaske nach mehreren Knochenbrüchen im Gesicht in die Schlacht. Der „Gladiator“, wie er ehrfurchtsvoll gerufen wird, kennt offenbar keinen Schmerz. „Er gibt auf dem Platz hundert Prozent und ich auf der Tribüne“, sagt Ertac. „Ich bin sein größter Fan.“
Ertac fiebert allerdings nicht nur im Stadion mit den Lilien. Das Märchen der Südhessen hat ihn auch inspiriert, auf den Rasen zurückzukehren. „Mir war die Lust vergangen“, sagt der Kaufmann für Marketing-Kommunikation. Fast drei Jahre lang setzte er aus mit dem Fußball, dann reizte es ihn wieder. „Die Geschichte der Lilien hat mein Fußballerherz höherschlagen lassen“, sagt Ertac. Hautnah erlebte er beide Aufstiege mit: auf dem Platz Minuten nach dem Spiel, in der Kabine, auf der anschließenden Party. „Das sind Momente, die man nicht vergisst. Da bekomme ich heute noch Gänsehaut. Und ich war ein Teil davon“, sagt Ertac.
Die Schwester stand im Tor
Die Gemeinschaft, den Zusammenhalt wollte auch Ertac Sulu noch einmal erleben – und schloss sich wieder seinem Heimatverein an. Mit der Reserve des FV Nußloch kämpft Sulu derzeit gegen den Abstieg aus der Kreisklasse A Heidelberg . „Es hat wieder gekitzelt“, sagt Ertac. Im Gegensatz zu seinem Bruder, dem eisenharten Verteidiger vom Böllenfalltor, ist Ertac Sulu ein klassischer Zehner. Techniker statt Eisenschädel. „Er war technisch besser als ich“, sagt der 30 Jahre alte Profi Aytac über seinen sechs Jahre jüngeren Bruder. Aber Aytac hatte den unbändigen Willen, sein Geld mit dem Fußball zu verdienen. „Ich war nicht so fokussiert wie er, für mich standen Schule und meine Freunde im Vordergrund. Aytac dagegen hat nie aufgegeben, er hat sein ganzes Leben dem Fußball untergeordnet“, sagt Ertac.
Ertac machte sein Abitur und verlor den Fußball zwischenzeitlich aus den Augen. „Jetzt macht es wieder Spaß“, sagt Ertac, dessen 35 Jahre alte Schwester Ayten jahrelang als Torhüterin auf dem Fußballplatz stand. „Wir sind eine komplett fußballverrückte Familie“, sagt Ertac. Die Eltern, als Gastarbeiter aus der Türkei gekommen, meldeten ihre Kinder im örtlichen Verein an, um sie in der neuen Heimat zu integrieren. „Für uns gab es nichts anderes als Fußball“, erinnert sich Ertac. Und Aytac schaffte es schließlich über die Umwege Österreich und Türkei in die Bundesliga – als zweiter Spieler des FV Nußloch nach dem früheren Profi von Bayern München und Bayer Leverkusen, Markus Münch. Obwohl Aytac auch Ertacs Traum lebt, gibt es unter den Brüdern keinen Neid. „Ich spüre nur puren Stolz. Alle in Nußloch sind stolz auf ihn, jeder spricht mich auf ihn an, aber das stört mich nicht. Durch ihn stehe ich selbst mit in der Bundesliga auf dem Platz“, sagt Ertac. Ein echtes Erlebnis - solange er sich keinen Zahn ziehen muss.
Autor/-in: Arne Leyenberg