Vor einigen Wochen startete Georg Wallner mit der Spielvereinigung Unterhaching in seine vierte Saison. Neben seinem Job als Athletiktrainer beim Regionalligisten arbeitet der 29-Jährige als Sportwissenschaftler bei Aktiva Medici, wo er sich schwerpunktmäßig um den Bereich Leistungsdiagnostik kümmert.
Anfang Juli leitete Wallner den zweiten Aktiva Medici Kreuzband-Kongress. Zahlreiche Trainer sowie Physiotherapeuten und Mannschaftsärzte regionaler Amateurvereine und DFB-Stützpunkte folgten der Einladung. Risikofaktoren, Vorbeugung, Aufbautraining - wir haben mit dem Athletiktrainer über alle Facetten des Kreuzbandes gesprochen.
FUSSBALL.DE: Herr Wallner, stimmt es, dass in Deutschland pro Jahr rund 80.000 Kreuzbänder reißen?
Georg Wallner: Diese Zahl stimmt. Es passiert alle 6,5 Minuten. Zwar treten muskuläre Verletzungen wie Zerrungen oder ein Muskelfaserriss noch häufiger auf, jedoch ist der Kreuzbandriss die häufigste schwerwiegende Verletzung. Weltweit zählen die Statistiker sogar eine Million Kreuzbandrisse pro Jahr.
"Als Zeitfenster für die Rückkehr auf den Platz sollte ein Amateurfußballer zwischen neun und zwölf Monate einplanen"
Welche Funktionen besitzen die Kreuzbänder?
Wallner: Die Hauptaufgabe besteht im Stabilisieren des Kniegelenks in der Rotation. Die Kreuzbänder verhindern also eine zu starke Rotation zwischen dem Ober- und Unterschenkel. Besonders beansprucht werden sie bei schnellen Richtungsänderungen, in denen das stehende Bein fixiert ist und sich der Oberkörper bereits in eine andere Richtung bewegt.
Gibt es weitere Funktionen?
Wallner: Speziell das vordere Kreuzband verhindert zudem, dass sich das Schienbein zu sehr nach vorne schiebt, was bei einer Grätsche von hinten gegen den Unterschenkel und bei Landungen mit weit nach hinten verlagertem Körperschwerpunkt passieren kann.
Vier Risikofaktoren
In Ihrer Forschung haben Sie vier grundlegende körperliche Schwächen ausgemacht, die die Gefahr eines Kreuzbandrisses erhöhen. Können Sie diese bitte erläutern?
Wallner: Ich habe viele Forschungsergebnisse gebündelt und sie mit einer individuellen Note versehen. Dabei unterteile ich die Risikofaktoren in vier verschiedene Defizite. Erstens eine zu schlecht ausgebildete Muskulatur der Becken-Bein-Achse, was zu einer geringen Stabilität im Kniegelenk führt. Auch eine im Verhältnis zur Oberschenkelvorderseite zu schwach ausgeprägte Muskelaktivierung der Oberschenkelrückseite erhöht das Risiko einer Verletzung. Dies tritt besonders häufig bei Frauen auf.
Und die beiden anderen Risikofaktoren?
Wallner: Die Verbindung zwischen Bein und Rumpf sollte im Optimalfall perfekt zusammenarbeiten und stabil sein. Ist dies nicht der Fall, verlagert sich der Körperschwerpunkt zum Beispiel bei Luftzweikämpfen. Die Folge ist eine unkontrollierte Landung, in der Spieler wegknicken können. Das vierte Defizit nenne ich "Beindominanz". Wenn ein Bein über deutlich mehr Kraft verfügt als das andere, steigt die Verletzungsgefahr ebenfalls.
Sind Frauen generell anfälliger für einen Kreuzbandriss?
Wallner: Untersuchungen haben ergeben, dass das Risiko bei Frauen zwei- bis achtmal so groß ist wie bei Männern. Dies hat mit dem schon erwähnten Verhältnis zwischen Oberschenkelvorder- und Rückseite zu tun, es gibt aber auch hormonelle Ursachen und anatomische Gründe.
OP oder konservative Behandlung?
Was empfehlen Sie zur Vorbeugung einer Kreuzbandverletzung?
Wallner: Ein systematisches Aufwärmen, das verschiedene Bereiche umfasst. Nach Laufübungen und dem Mobilisieren des Sprunggelenks und der Hüfte sollten Kräftigungsübungen durchgeführt werden. Wade, Oberschenkel, Gesäß und Rumpf – alle relevanten Muskelgruppen sollten abgedeckt werden. Anschließend empfehle ich dynamische Bewegungen, also einbeinige und beidbeinige Sprünge, aber auch schnelle Richtungswechsel mit Abbremsbewegungen.
Das klingt nach einem sehr großen Umfang.
Wallner: Eine US-Studie hat gezeigt, dass das Verletzungsrisiko durch dieses 20- bis 30-minütige Programm um 88 Prozent reduziert wird. Es lohnt sich also, dieses Aufwärmprogramm vor jedem Training und Spiel durchzuführen. Besonders bei den Kräftigungsübungen ist allerdings der individuelle Charakter wichtig, da die Spieler eines Kaders über eine sehr unterschiedlich ausgeprägte Muskulatur verfügen können.
Haben all diese vorbeugenden Maßnahmen versagt und das Kreuzband ist gerissen – was raten Sie: Operation oder konservative Behandlung?
Wallner: Wenn das Kreuzband komplett durchgerissen ist, führt bei Athleten aus Sportspielarten kein Weg an einer OP vorbei. Ein Teilriss ist eher selten und muss daher individuell betrachtet werden. Das hintere Kreuzband wird hingegen häufiger konservativ behandelt, da es sich durch eine gute Muskulatur besser stabilisieren lässt.
Wie sieht ein optimales Aufbautraining aus?
Wallner: Nach der Operation sollte so früh es geht mit der Physiotherapie begonnen werden, um wieder die ursprüngliche Beugung und Streckung des Kniegelenks zu erreichen. Zudem lassen sich durch ein propriozeptives Training (Anm. d. Red.: Training auf instabilen Standflächen) sowohl die Muskelkraft als auch die neuromuskuläre Kontrolle verbessern. Sofern die Muskelkraft im Seitenvergleich weniger als zehn Prozent Differenz aufweist, sind erste Laufbelastungen zwischen der 12. und 14. Woche möglich. Frühestens ab dem vierten Monat können Sprünge ins Aufbautraining integriert werden.
Wann können Spieler wieder ins Mannschaftstraining zurückkehren?
Wallner: Das unterscheidet sich sehr stark. Sami Khedira beispielsweise stand knapp sechs Monate nach seinem Kreuzbandriss wieder bei der WM auf dem Rasen. In diesem Fall waren allerdings auch die Nachbehandlung und der Umfang perfekt. Das ist im Amateurfußball selten zu leisten. Als Zeitfenster für die Rückkehr auf den Platz sollte ein Amateurfußballer zwischen neun und zwölf Monate einplanen.
Wenn es um den richtigen Zeitpunkt für das Comeback geht, schwingt häufig Unsicherheit mit. Wie lässt sich feststellen, ob eine Verletzung bereits vollständig überwunden ist?
Wallner: Ich empfehle zwei Schritte: Zum einen sollte der operierende Arzt durch klinische Tests kontrollieren, ob die Band-Stabilität wieder ausreichend gegeben ist. Zum anderen lassen sich in Physioeinrichtungen durch motorische Tests die vier Risikofaktoren überprüfen, die ich eingangs erwähnt hatte. Gibt es anschließend keine Bedenken, ist der Weg frei für die Rückkehr auf den Platz.