Aus ihren kleinen Heimatvereinen zogen sie einst aus, um die große Fußballwelt zu erobern und die Nationalmannschaft als Kapitäne aufs Feld zu führen. FUSSBALL.DE stellt die Heimathäfen der Kapitäne vor. Heute: Schon im Trikot von Union Günnigfeld wurde Willi Schulz Nationalspieler. Später wurde er Vizeweltmeister, war im Jahrhundertspiel gegen Italien dabei und bekam den Namen "World-Cup-Willi".
Mit seinen fußballerischen Fähigkeiten sorgte Willi Schulz für einen Kneipenboom in Günnigfeld. Public Viewing war damals zwar noch lange nicht erfunden, dafür existierte noch so etwas wie „Public Negotiating“ - Verhandlungen in aller Öffentlichkeit. Vertreter von Schalke 04 und Borussia Dortmund drängten sich 1959 an den Tresen der beiden Kneipen der Familie Schulz in Wattenscheid. Sohn Willi hatte gerade sein Debüt in der Nationalmannschaft gefeiert. Aber nicht etwa als Abgesandter aus Gelsenkirchen oder Dortmund, den unumstrittenen Fußball-Hochburgen des Westens. Nein, Willi Schulz kickte bei Union Günnigfeld in der damals drittklassigen Verbandsliga.
„Das sorgte für Furore und die großen Vereine standen Schlange vor unserer Haustür“, erinnerte sich Schulz im Interview mit RevierSport . Das Rennen um den Nationalspieler machte schließlich die Delegation aus Schalke. „Aus Wattenscheid war der Weg nach Gelsenkirchen einfach kürzer als nach Dortmund“, sagte Schulz lachend. Mehr als 40 Jahre später nahm Niko Bungert eine ähnliche Route. Auch Bungert wechselte aus der Günnigfelder Jugend zu Schalke 04 – allerdings über den Umweg Wattenscheid 09. Mittlerweile ist der Bundesligaprofi in Mainz gelandet.
Spitzname "World-Cup-Willi"
„Wenn ich morgens nach einem Spiel aufstand, knackten die Knochen so laut, dass ich dachte, da läuft einer neben mir her“
Zur 100-Jahr-Feier ihres Heimatklubs kamen sie 2011 alle noch einmal nach Günnigfeld: Willi Schulz, Niko Bungert und auch Peter Közle. Der frühere Bundesligaprofi des MSV Duisburg und des VfL Bochum ließ damals gerade seine Karriere in Günnigfeld ausklingen. Ein paar Kumpels hatten ihn in die Niederungen des Fußballs gelockt. In elf Jahren könnte es das nächste Wiedersehen der Klubgrößen geben. Denn Union Günnigfeld ist nach der Fusion mit der DJK Westfalia Günnigfeld längst im VfB Günnigfeld aufgegangen - so wie Wattenscheid mittlerweile zu Bochum gehört. Und die Westfalia wurde erst 1926 gegründet. „In elf Jahren können wir also nochmal unser Hundertjähriges feiern“, sagt Frank Scheffler scherzhaft.
2004 leitete der damalige Jugendleiter der Westfalia die Fusion der Günnigfelder Klubs mit ein, seit zwei Jahren ist er Erster Vorsitzender des VfB. „In Günnigfeld leben 7000 Menschen und es gab zwei Fußballvereine. Das machte auf Dauer keinen Sinn“, sagt Scheffler. Also wuchs zusammen, was eigentlich nicht zusammengehörte. „Auf dem Feld waren die Klubs erbitterte Rivalen, aber es bestand keine Feindschaft. Es hat niemand die Straßenseite gewechselt, wenn ein Unioner kam. Die Fusion war relativ schnell kein Problem mehr“, erzählt Scheffler.
Einen Nationalspieler hervorgebracht haben zahlreiche Amateurvereine in Deutschland. Aber in Günnigfeld hatten sie einen aktiven Nationalspieler in ihren Reihen. Nach jeweils einem Einsatz in der Junioren- und in der B-Nationalmannschaft hatte Bundestrainer Sepp Herberger den Abwehrspieler Schulz für das Länderspiel gegen Jugoslawien 1959 in Hannover nominiert. Der Günnigfelder spielte gleich von Beginn an neben Helmut Rahn, Uwe Seeler und Karl-Heinz Schnellinger. Eine Geschichte, die sich so nicht mehr wiederholen wird. Aber auch eine Geschichte, für die sich der 650 Mitglieder zählende VfB heute im Wortsinne nichts mehr kaufen kann. „Das ist eine schöne Anekdote aus der alten Zeit. Aber vor Ort ist die nicht mehr relevant. Wir profitieren davon nicht“, sagt Scheffler.
Beteiligt am Wembley-Tor
Ruhrpottler Schulz zog es bereits 1965 in den hohen Norden. Nach dem Schalker Abstieg, der erst im Nachgang verhindert wurde, weil die Bundesliga auf 18 Vereine aufgestockt wurde, wechselte Schulz zum Hamburger SV. „Als Nationalspieler wollte ich in der Bundesliga bleiben. Von der Nationalelf kannte ich Uwe Seeler und Charly Dörfel und dann erschien meiner Frau und mir Hamburg gar nicht mehr so fremd. Wir haben uns die Stadt angeschaut und sie hat uns sofort gefallen.“ Die Westdeutsche Allgemeine Zeitung nennt Schulz später einen „integrierten Kohlenpott-Hanseaten“. Der einprägsamste Spitzname wird ihm allerdings 1966 verpasst. Der Name des offiziellen englischen WM-Maskottchens „World-Cup-Willie“ wird auf Schulz umgemünzt. Der deutsche World-Cup-Willi spielt überragend.
Erst im Finale kommt er einen Schritt zu spät. Den Schuss des Engländers Geoffrey Hurst kann er nicht mehr blocken. Der Treffer zum 2:3 geht als Wembley-Tor in die Geschichte ein. „Geoff Hurst schoss, ich kam zu spät, der Ball prallte gegen die Latte, Weber klärte und der Linienrichter winkte. Der Rest ist Geschichte", fasst Schulz zusammen: "Aber wenn man vor 100.000 Menschen im Wembley-Stadion im Finale steht, dann kann man auch auf eine Vizeweltmeisterschaft stolz sein, zumal die Umstände bekanntlich ein klein wenig umstritten waren. Wir zeigten Charakter und akzeptierten die Fehlentscheidung. Helmut Schön sagte hinterher in der Kabine: ‚Jungens, seid stolz! Ein guter Zweiter ist besser als ein schlechter Erster.‘“
Schluss nach dem "Jahrhundertspiel"
Auch vier Jahre später, in seinem letzten Länderspiel, war Schulz daran beteiligt, dass große Fußballgeschichte geschrieben wurde. In der 111. Minute des legendären WM-Halbfinales von Mexiko-Stadt gegen Italien verlor er den entscheidenden Zweikampf gegen Roberto Boninsegna, der den 4:3-Siegtreffer vorbereitete. Schulz in RevierSport : „Wir hatten drei Tage zuvor England in einer kräftezehrenden Partie mit 3:2 nach Verlängerung geschlagen und mussten anschließend noch unser Quartier wechseln. Im Halbfinale gegen Italien gab es wieder Verlängerung und irgendwann waren wir mit unseren Kräften und der Konzentration am Ende. Beim Schlusspfiff waren wir Spieler, Deutsche und Italiener, nur froh, dass es endlich vorbei war. Dass wir ein ‚Jahrhundertspiel‘ miterlebt hatten, diese Erkenntnis kam erst viel später. Am Ende des Spiels gab es einfach nur die Leere, die mehr aus der Erschöpfung denn aus der Niederlage heraus resultierte. Wenige Tage später mussten auch die Italiener diesem Drama ihren Tribut zollen und gingen im Finale gegen Brasilien chancenlos unter.“
Für Schulz war nach 66 Länderspielen, davon 20 als Kapitän, Schluss. Zum Spiel um Platz drei gegen Uruguay (1:0) trat er nicht mehr an: „Ich brachte meine Fußballschuhe gar nicht mehr mit ins Stadion. Das war mit Helmut Schön abgesprochen, denn ich schlug mich während des Turniers ständig mit einer Verletzung herum. Und ob ich nun ein Länderspiel mehr auf dem Konto gehabt hätte oder nicht, wo ist da der Unterschied? Als ich zurück nach Hamburg kam, musste ich mich erst einmal am Meniskus operieren lassen. Danach ging es noch drei Jahre, bis ich mich 1973 auch aus der Bundesliga verabschiedet habe. Ich stand vor meinem 35. Geburtstag und wenn ich morgens nach einem Spiel aufstand, knackten die Knochen so laut, dass ich dachte, da läuft einer neben mir her. Ein untrügliches Zeichen für den Abschied.“
Der heute 76 Jahre alte Schulz blieb auch nach seiner Karriere im Norden. Der erfolgreiche Geschäftsmann in der Versicherungs- und Automatenbranche engagierte sich als stellvertretender Vorsitzender des Aufsichtsrats weiter beim HSV. Neben Schulz brachte Union Günnigfeld in Willi Sturm einen weiteren Nationalspieler hervor. Der bereits verstorbene Sturm, der 1966 mit Borussia Dortmund den Europokal der Pokalsieger gewann, absolvierte 1964 ein Länderspiel. Auch der frühere Zweitligaprofi von Rot-Weiß Oberhausen, Mike Terranova, lernte das Fußballspielen als Jugendlicher in Günnigfeld.
VfB zurück in der Landesliga
Seit vergangenem Jahr ist der VfB Günnigfeld zurück in der Landesliga. „Wir waren früher Meister als Bayern München“, sagt Vorsitzender Scheffler. Eine Klasse höher tun sich die Wattenscheider allerdings schwer – derzeit stehen sie nur zwei Punkte von einem Abstiegsplatz entfernt. „Wir haben es uns einfacher vorgestellt, aber ich habe gute Hoffnung, dass wir in der Liga bleiben“, meint Scheffler. Sein Klub setzt mittlerweile verstärkt auf die eigene Jugend. „Wir sind davon abgekommen, Altinternationale einzusetzen. Wir wollen vernünftigen Fußball spielen, aber ich will nachts auch ruhig schlafen und nicht daran denken, woher ich den nächsten Euro bekomme.“ Daher soll es für den Verein auch nicht mehr höher hinaus gehen. Scheffler: „Die Sportliche Leitung will natürlich so hoch wie möglich spielen. Aber die Landesliga ist das Höchste der Gefühle, was wir stemmen können.“
Neben zwei Seniorenmannschaften und einem Frauenteam in der Bezirksliga hat der Klub neun Nachwuchsmannschaften gemeldet. Dort spielen heute auch die Kinder und Enkel der Unioner und Westfalen, welche die Fusion vor elf Jahren noch ablehnten. „Die haben sich zurückgezogen, kommen jetzt aber wieder sonntags als Zuschauer zum Sportplatz“, sagt Scheffler. Einige von ihnen haben noch Alt-Unioner Willi Schulz kicken sehen. Scheffler ist sich sicher: „Sein Verein ist bei uns in guten Händen.“
Alle Folgen der Serie:
Bierhoff: Essen profitiert noch heute von ihm
TSV Feytal: Wiegmann macht es den Jungs vor
Weltmeister Lahm: Besonders gern in Gern
1906 Haidhausen: Kaiser Beckenbauer auf Roter Erde
Union Altona: Schon Adolf Jäger zog es zu 93
Ballack: Der Capitano aus dem Chemnitzer Kombinat
Kohler: Zu Hause in Lambsheim feierte ihn sogar der Rivale
Ludwig Leinberger: Der vergessene DFB-Kapitän des TSV 1846 Nürnberg
TB Gingen: Ein Klinsmann unter lauter Turnern
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Blaubach-Diedelkopf: Ein Klose war zu wenig
Autor/-in: Arne Leyenberg