Links zuerst. Michael Glang wird auch an diesem Samstag zuerst den linken Socken anziehen. Dann den linken Stutzen. Dann den linken Schuh. Und danach das Gleiche nochmal rechts. So wie immer. Aber es ist kein Spiel wie immer. Es ist sein Spiel. Zum letzten Mal läuft Glang für die Spielvereinigung Seeheim-Jugenheim auf. Jenen Verein in der Nähe von Darmstadt, dem er 1986 als Sechsjähriger beigetreten ist.
Seit der F-Jugend hat er rund 900 Pflichtspiele bestritten, mehr als 800 davon als Kapitän in den verschiedenen Altersklassen. 1998 ist er Spielführer der ersten Mannschaft geworden, als 18-Jähriger. 17 Jahre lang hat er dieses Amt ausgefüllt, ist drei Mal auf- und nie abgestiegen.
"Ich hätte mir keinen besseren Kapitän wünschen können. Er ist immer vorneweg gegangen und war sich auf dem Platz nie zu schade für die Drecksarbeit"
Am Samstag um 15.30 Uhr beginnt im Christian-Stock-Stadion das Abschiedsspiel zwischen einer von Glang zusammengestellten Mannschaft und dem Seeheimer Gruppenliga-Team. Danach geht eine Seeheimer Institution. Vor seinen letzten Punktspiel im Mai hat der 34-Jährige neben einem Getränke-Präsentkorb auch eine Kapitänsbinde geschenkt bekommen: Bedruckt mit „Michi“, dem Vereinswappen und einer „4“, seiner Rückennummer seit der C-Jugend.
„Ich hätte mir keinen besseren Kapitän wünschen können“, sagt Peter Polak, der die erste Mannschaft 2008 als Trainer übernommen hat: „Er ist immer vorneweg gegangen und war sich auf dem Platz nie zu schade für die Drecksarbeit.“ Polak akzeptiert natürlich die Entscheidung seines Kapitäns, bedauert sie aber genauso: „Michi hinterlässt eine gewaltige Lücke, menschlich und sportlich.“
Eine gewaltige Lücke
Der Körper, vor allem die Knie, sendeten schon länger deutliche Signale, dass es ratsam wäre, aufzuhören. Doch 2014 gelang der erstmalige Aufstieg in die Gruppenliga Darmstadt: „Der größte Erfolg der Vereinsgeschichte. Das konnte ich mir nicht entgehen lassen“, sagt Glang. Passenderweise erzielte der defensive Mittelfeldspieler, sonst kein Torjäger, den ersten Gruppenliga-Treffer.
Beruflich bedingt – Glang arbeitet als Online-Sportjournalist oft am Wochenende – wollte er in der abgelaufenen Saison weniger spielen. Unter dem Strich war er doch in 26 von 32 Partien dabei. Klassenerhalt lautete die Vorgabe, Platz vier das Ergebnis. „Es war eine unglaubliche Saison. Aber jetzt reicht es. Irgendwann sind andere Dinge wichtiger“, resümiert Glang, der momentan ein Haus baut. Das „Teamerlebnis“, gibt er zu, werde ihm aber sicher fehlen.
Ein ganzes Fußballerleben in einem Verein – selbst im Amateurbereich gibt es das nicht mehr oft. Für ein paar Euro mehr wird munter hin- und hergewechselt. Glang hätte zu seiner besten Zeit mindestens in der Oberliga spielen können, ist von vielen Seiten zu hören. In der A-Jugend hatte er eine Anfrage vom SV Darmstadt 98, dessen Nachwuchs in die Bundesliga aufgestiegen war. Ein Trainer eines anderen Vereins rief danach öfter an, fragte stets, ob „der Effenberg von Seeheim“ am Apparat sei und versuchte ihn zu holen. Doch Glang blieb bei seinem Heimatverein, wo es schon immer Maxime war, kein Geld an die Spieler zu zahlen. „Der Spaß mit den Jungs“ und die Möglichkeit abends weggehen zu können, waren ihm wichtiger, als woanders höher zu spielen.
Als er ab 2005 drei Jahre in Bochum Sportwissenschaft studierte, fuhr er jeden Donnerstag mit einem ebenfalls dort studierenden Teamkollegen die knapp 300 Kilometer zum Training. Sonntag nach dem Punktspiel ging es zurück. Wegen der räumlichen Entfernung hatte er die Kapitänsbinde zunächst abgegeben. Doch er bekam sie schnell zurück.
Eine natürliche Autorität
Übernommen hatte er sie, als dem Verein 1998 nach dem Abstieg in die Kreisliga B fast eine komplette Mannschaft abhandengekommen war. Der neue Trainer fragte Vorstandsmitglieder nach ihrer Meinung, wer Kapitän werden solle. Einhellige Antwort: „Michi“. Er kam damals frisch aus der A-Jugend und hatte trotzdem bereits das, was man gemeinhin natürliche Autorität nennt. „Sein Wort war immer Gesetz“, sagt der jetzige Trainer Polak. Gesprochen hat Glang auch gern mit dem Schiedsrichter – und dafür eine stattliche Zahl an Gelben Karten gesammelt. Platzverweise dagegen nur ganz wenige.
Fast drei Jahrzehnte Seeheim, da bleibt so einiges im Gedächtnis. Unter anderem sein erster Trainer, der trotz schlechter Augen auf eine Sehhilfe verzichtete und mehrmals pro Spiel fälschlicherweise Tor brüllte. Da sind zudem die Sprüche seiner verschiedenen Trainer, von „Männer, wir brauchen heute Dynamit in den Stutzen“ bis „die sind besser als ihr Tabellenplatz“ (genutzt bei allen Gegner außer dem Spitzenreiter). Und da waren Spiele wie das 3:2 vor anderthalb Jahren mit einer „aberwitzigen Schlussphase“ (Glang) bei der SKV Büttelborn. Bis zur 88. Minute hatte es 0:2 gestanden.
Der Fußball hat bisher vor allem seine Wochenenden durchstrukturiert. Einfach mal spontan wegfahren? Unmöglich in der Saison. Bei Heimspielen war am Sonntag um 13 Uhr Treffpunkt. Eine Halbzeit der zweiten Mannschaft ansehen. Umziehen. Ansprache des Trainers. Warmmachen. Spiel. Und schließlich, auch wichtig: Ausklang im Vereinsheim. Dessen Wirt hat bereits gesagt, dass er es vermissen wird, wenn Glang nicht mehr nach dem Duschen in Badelatschen ein Weizenbier bestellt.
Am Samstag wird er noch einmal seinen Stammplatz in der Kabine einnehmen, hinten in der Ecke, und sich ein letztes Mal fürs Spiel bereit machen. Links zuerst. Wie immer.
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Teil 35: Hans-Peter Biallas: Denker, Lenker und Wühler
Teil 34: Frank Schmöller: Der Aufbrauser am Seitenrand
Teil 33: Kein Regionalliga-Tag ohne Bettina Kutscher
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Teil 31: Opa Egon: Der älteste Fußballer Hamburgs
Teil 30: Joe Spielhoff: Mehr Horst geht nicht
Autor/-in: Sebastian Schlichting